Mehrere Darsteller eng beieinander auf der Bühne mitsamt ihren Instrumenten.

Musical stellt Migration auf den Kopf: Deutscher Gastarbeiter am Bosporus

Essen | Heimatliebe

Stand: 06.03.2025, 17:23 Uhr

Wie fühlt es sich an, als deutscher Gastarbeiter ohne Sprachkenntnisse im fremden Land Türkei klarkommen zu müssen? Mit diesem simplen Gedankenspiel sorgt das Musical "Istanbul" am Essener Grillo Theater für ein ausverkauftes Haus.

Von Carmen Krafft

Am 27. September 1961 fährt ein Zug am Bahnhof Köln-Deutz ein. Reisende mit müden Blicken betreten den Bahnsteig. Sie haben eine lange und anstrengende Fahrt hinter sich. Von Istanbul aus sind die ersten türkischen Gastarbeiter über Sofia, Belgrad und München nach NRW gekommen. In ein fremdes Land, mit einer fremden Sprache. Was wäre, wenn der Zug genau andersherum gefahren wäre?

Ein Konzertbesuch als Ideengeber

"Wozu brauche ich Türkisch? Werde ich hier Medizin studieren? Wir bauen eure Straßen. Wir bringen euren Müll raus!", schreit Klaus seinem Migrationsbetreuer Ismet entgegen. All der Frust über zerstörte Träume vom Geldverdienen im Wirtschaftswunder-Staat platzt aus ihm heraus. Ismet wird ebenfalls laut, der Streit schaukelt sich immer weiter hoch. Klaus und Ismet heißen eigentlich Stefan Diekmann und Alican Yücesoy. Und sie sind weder Gastarbeiter noch Migrationsbetreuer, sondern Schauspieler am Essener Grillo Theater.

Umgedrehte Perspektive im Musical: Deutscher Gastarbeiter aus Essen und sein Leben in Istanbul

00:19 Min. Verfügbar bis 07.03.2027

Der deutsche Gastarbeiter Klaus ist die Hauptfigur des Theater-Musicals "Istanbul". Ausgedacht hat sich die Figur eine der beiden Intendantinnen des Grillos, Selen Kara. Vor zehn Jahren besuchte sie ein Konzert der türkischen Pop-Sängerin Sezen Aksu in Istanbul. Die Türkei ist die Heimat ihrer Eltern und Großeltern. Zusammen mit ihrem Mann Torsten Kindermann und dem Autor Akın Emanuel Şipal kommt der heute 39-Jährige auf diesem Konzert eine Idee. Sie will mit den Songs der türkischen Pop-Ikone ein zweisprachiges Musical auf die Bühne bringen. Deutscher Sprechtext, türkische Songs.

Wenn Träume in Istanbuler Fabriken platzen

Während sich Klaus und Ismet streiten, sitzen einige Zuschauer direkt neben ihnen an mehreren Tischen auf der Bühne. Klaus kommt eigentlich aus dem Arbeiterviertel Essen-Katernberg und ist in den 60er-Jahren als Gastarbeiter in die Türkei gekommen, um für sich und seine Familie ein besseres Leben zu erarbeiten. Stattdessen malocht er sich in Istanbuler Fabriken kaputt.

In seinem schlichten grauen Anzug singt er auf Türkisch von willkommenen Grüßen aus der Heimat. "Düş Bahçeleri" heißt das Original von Pop-Sängerin Sezen Aksu. Auf der Bühne spielt eine Band Live-Musik mit türkischen Instrumenten. Das Lied klingt melancholisch, sanft. Einige Zuschauer mit türkischen Wurzeln im Publikum stimmen mit ein.

Intendantin Selen Kara links mit einer Darbuka-Trommel und Theatermusiker Thorsten Kindermann rechts mit einer Klarinette

"Istanbul"-Intendantin Selen Kara und Theatermusiker Torsten Kindermann inszenierten "Istanbul"

Inzwischen wird das Stück in immer neuen Inszenierungen an vielen deutschen Bühnen gespielt, wie Bochum, Bonn, Mannheim oder in Bremen. Für Selen Kara, die in Bochum studierte, passt es perfekt in das Konzept von Teilhabe und interkulturellem Theater. "Ein großer Teil der Schauspieler und Musiker und die Regie haben ihre Wurzeln bei allen Inszenierungen in der Türkei", sagt Kara. "Und wir bieten Karten gezielt in der türkischen Community in Essen an." Und die ist groß, mehr als 34.000 Menschen haben laut Stadt Essen die Türkei als Herkunftsland.

"Uns geht es darum, sich in die Lage der Menschen aus einem anderen Land zu versetzen", sagt Kara. Nicht nur speziell die der türkischen Community. "Wir hoffen auf Mitgefühl für alle Mitmenschen, egal welchen Hintergrund sie haben und egal, wann sie nach Deutschland eingewandert sind."

Mitgefühl statt Anspruchsdenken

Valiye Oduncu und Meral Bethke aus Essen saßen an diesem Abend im Publikum. Die beiden Töchter von ehemaligen Gastarbeitern hat der Perspektivwechsel nicht nur berührt, sondern auch nachdenklich gemacht. "Das ist eigentlich unsere Geschichte", sagen sie. Ständig Erwartungen übertreffen zu müssen, trotzdem nicht gut genug zu sein, das würden sie gut kennen.

Was die Besucherinnen Valiye Oduncu und Meral Bethke zu dem Musical sagen

00:14 Min. Verfügbar bis 07.03.2027

Trotz des ernsten Themas bleibt auch genug Raum für komische Momente. Wie der Schluss des Musicals "Istanbul". Achtung, Spoiler: Denn weder Klaus' Freund Ismet noch seine Familie wissen, wo Klaus eigentlich begraben werden soll.

Über dieses Thema haben wir auch am 21.02.2025 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Ruhr, 19.30 Uhr.