Im Kofferraum von Michaela Müller stapeln sich Lebensmittel für Rentner aus der Nachbarschaft in Essen-Altenessen. Viele hätten kaum Geld für alltägliche Dinge, sagt Müller. Während die 48-Jährige ausräumt, erzählt sie mit Tränen in den Augen von einem Erlebnis im Winter: "Eine Frau war über 90 und die Bude eiskalt. Ich habe schon viel erlebt, aber das hat mich besonders mitgenommen."
Nordfünkchen in Essen: Ein Zufluchtsort für Senioren
Seit September 2022 hat das Nordfünkchen in einer kleinen Einzimmerwohnung geöffnet. Etwa drei Mal in der Woche ist Müller vor Ort, für Gespräche, Massagen und zur Ausgabe von Lebensmitteln. Alles kostenlos. Gemeinsam mit einem Verein für Naturheilpraxis wird das Projekt finanziert, viele der ausgegebenen Lebensmittel sind gespendet. Das Nordfünkchen ist zu einem Zufluchtsort im Stadtteil geworden. Rund 30 Menschen kommen regelmäßig.
Drinnen duftet es nach Vanille, Kerzenschein taucht alles in ein warmes Licht. Es gibt einen Tisch, ein Regal gefüllt mit Lebensmitteln, auf der anderen Seite des Raumes hängt über einer Massageliege ein Bild vom Meer. "Ich möchte Senioren eine Möglichkeit bieten, dass sie zum Kaffee kommen oder wird uns unterhalten können. Sie müssen sich hier nicht dumm vorkommen oder schämen", sagt Müller über ihr Herzensprojekt.
Dass das Nordfünkchen ausgerechnet in Altenessen geöffnet hat, ist kein Zufall. Der Stadtteil ist ein sozialer Brennpunkt im Essener Norden, der von der Politik häufig übersehen wird. Auch hier sind Rentner immer häufiger von Armut betroffen. Deutschlandweit waren es laut Paritätischem Wohlfahrtsverband fast 3,3 Millionen. Jeder fünfte Renter gilt als arm. Die Zahl der Betroffenen steigt seit 15 Jahren kontinuierlich an. Die hohen Preise für Energie und Lebensmittel im vergangenen Winter haben die Situation verschärft.
Wenn die Rente einfach nicht reicht
"Sie haben keine Lobby. Ich habe einen Herrn kennengelernt, der ist 90. Der könnte sich ohne Hilfe nicht ernähren. Eine Dame ist über 80, hat ihr Leben lang malocht und jetzt eine Minirente", erzählt Müller über die Senioren im Nordfünkchen. Hauptberuflich ist sie Krankenschwester. Auf ihrer Arbeit seien ihr viele ältere Menschen aufgefallen, die abgenommen hätten. "Die kennen Hunger und die kennen Kälte von früher noch. Da zerbricht mein Herz", sagt sie mit brüchiger Stimme.
Einer von denen, die regelmäßig kommen, ist Jupp Heidelbach. Der 66-Jährige hat in seinem Leben viel gearbeitet. Als sein Arbeitgeber dicht machte, rettete er sich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit. Seine Rente ist klein. Auswärts essen, und sei es nur eine Pizza, ist für ihn Luxus: "Ich habe immer gedacht, mit meiner Rente komme ich gut über die Runden, aber das ist leider nicht so. In der letzten Zeit ist es noch viel schlimmer geworden". Am Anfang habe er sich geschämt, wollte keine fremde Hilfe annehmen. In der gemeinsamen Zeit sind er und Müller aber so etwas wie Freunde geworden.
Gemeinsam anpacken
Heidelbach packt inzwischen selbst beim Nordfünkchen mit an. Aus dem Hilfsbedürftigen wurde selbst ein Helfer. Der Rentner räumt Regale und Einkäufe ein, packt Lebensmittelbeutel. Mittlerweile hat er sogar einen Schlüssel zur Wohnung.
Damit ist er auch Teil von Müllers Philosophie geworden: Wenn jeder ein bisschen hilft, kann man gemeinsam viel erreichen. Inzwischen hat die 48-Jährige einen Verein gegründet und sich ein nächstes Ziel gesetzt. Sie möchte den Senioren Theaterbesuche ermöglichen.
Über dieses Thema berichteten wir auch im WDR-Fernsehen am 13.06.2023, Lokalzeit Ruhr, 19.30 Uhr.