Depeche Mode: Musik für die Massen

Von Ingo Neumayer

Angefangen als flotte Synthie-Popper, haben Depeche Mode in 40 Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt: Sie haben Höhen genossen, Tiefen getrotzt und gehören noch immer zu den erfolgreichsten Bands unserer Zeit. Am 8. Juli 2023 wäre Andrew Fletcher 62 Jahre alt geworden.

Große Popmusik aus einem kleinen Kaff östlich von London? Kleinkriminelle, die sich nach einem französischen Modemagazin benennen? Schwarze Lederjacken und eingängige Synthesizer? Bei Depeche Mode passt im Jahr 1981 eigentlich nichts so richtig zusammen. Bis auf die Songs, die wunderbar die gerade beginnende Synthiepop-Welle mit Bands wie OMD, Ultravox oder Soft Cell reiten. Das beschwingt-naive "Just Can't Get Enough" wird dann auch direkt ein Hit für das Quartett.

Doch kurz nach Veröffentlichung des Debütalbums "Speak & Spell" im Herbst 1981 steigt Hauptsongwriter Vince Clarke aus, um erst Yazoo, dann The Assembly und schließlich Erasure zu gründen. Depeche Mode scheinen am Ende, bevor die Karriere richtig losgegangen ist. Der schüchterne Martin Gore übernimmt das Songwriting und verpasst der Band auf dem Album "A Broken Frame" (1982) einer eher düsteren, melancholischen Klang.

Nach Clarkes Abgang steigt Alan Wilder (re.) in die Band ein. Erst als Aushilfe auf Tour und bei TV-Auftritten, wird er schließlich zum vollwertigen Mitglied. Wilder ist der Soundfuchs, der im Gegensatz zu den anderen eine richtige musikalische Ausbildung und Studioerfahrung hat. Er sorgt für viele Experimente. So sind auf dem Album "Construction Time Again" viele Alltagsgeräusche zu hören, beim Song "Pipeline" etwa werden die Klänge von Tischtennisbällen gesampelt. Die Idee entsteht spontan, als die Band bei einer Aufnahmepause im Studio eine Runde Ping-Pong spielt.

Mit "Everything Counts" gibt es auf dem Album den nächsten Hit für die Band, die einen erstaunlichen Spagat schafft: Sie begeistert Popfans und Charts-Hörer, lässt dank ihrer melancholischen Seite das ein oder andere Grufti- und Gothic-Herz höher schlagen und gewinnt durch ihren innovativen Ansatz und die ungewöhnlichen Sounds auch viele Freunde unter Elektro- und Industrial-Anhängern. Selbst Avantgarde-Bands wie die Einstürzenden Neubauten zeigen sich beeindruckt.

Nur der Look der Band ist am Anfang noch sehr gewöhnungsbedürftig. Während Martin Gore (li.) mit Lack, Leder und femininen Outfits für Aufsehen sorgt, wirkt Sänger Dave Gahan (re.) im Anzug und mit Krawatte eher wie ein Azubi von der Sparkasse. Selbst einen Teil seiner Tattoos aus seiner wilden Jugendzeit lässt er per Laser entfernen.

1984 gelingt Depeche Mode dann der endgültige Durchbruch: "People Are People" wird ein weltweiter Top-Ten-Hit. Am besten schneidet der Song in Deutschland ab: Dort erreicht er sogar die Nummer eins der Charts und legt den Grundstein für eine ganz besondere Beziehung: Die deutschen Fans, so betont die Band immer wieder, seien etwas ganz Besonderes für Depeche Mode.

"Master And Servant", "Blasphemous Rumours", "Shake The Disease", "Stripped", Strangelove", "Never Let Me Down Again": In den folgenden Jahren reihen Depeche Mode Hit an Hit und werden zu einer der erfolgreichsten Bands der ausgehenden 80er Jahre.

Auch die Konzerte der Band finden großen Anklang. Besonders die "Music For The Masses"-Welttour, die 1987/88 stattfindet, gerät zu einem regelrechten Triumphzug. 101 Auftritte lang wird die Band rund um den Globus gefeiert. Der Tourabschluss im kalifornischen Pasadena erscheint später als Livealbum und Konzertfilm.

Im Gegensatz zu vielen anderen 80er-Bands können Depeche Mode auch in den 90ern mit "Personal Jesus", "Enjoy The Silence" oder I Feel You" nahtlos an ihre Erfolge anknüpfen. Die hohe Schlagzahl und die Mammuttourneen fordern allerdings ihren Tribut. Sänger Dave Gahan wird schwer drogensüchtig und stirbt beinahe an einer Überdosis. 1995 verlässt Alan Wilder die Band, weil er sich nicht genug wertgeschätzt fühlt. Die Zukunft der Band ist mehr als ungewiss.

Doch Gore, Gahan und Fletcher raufen sich zusammen. Gahan macht eine Entziehungskur und schon kurz danach nehmen sie das Album "Ultra" auf, das Anfang 1997 erscheint. Eine Tour gibt es vorerst nicht. Gahan will erstmal wieder zu Kräften kommen und sich diese Strapazen ersparen. Erst eineinhalb Jahre später tritt die Band wieder live auf. Die "Singles"-Tour, die im Herbst 1998 startet, wird – Überraschung! – ein Riesenerfolg.

Vor allem Gahan, der sein Leben ordnet, täglich joggt und die Finger von berauschenden Substanzen lässt, ist voller Tatendrang und will sich auch kreativ mehr einbringen. Er veröffentlicht ein Soloalbum und geht damit auf Tour. Auf dem Album "Playing The Angel" (2005), erscheinen erstmals drei Depeche Mode-Songs, die aus seiner Feder stammen.

Die Rollen bei Depeche Mode sind klar verteilt: Der stille Martin Gore und der Showman Dave Gahan sind für das Kreative zuständig und geraten sich dabei gerne auch mal in die Haare. Doch immer, wenn es zu kippen droht, schreitet Andy Fletcher (re.) ein. Er leistet zwar so gut wie keinen kreativen Beitrag, aber er sorgt als "Schiedsrichter" und Übersetzer dafür, dass das soziale Gefüge bei Depeche Mode halbwegs intakt bleibt und sich Gore und Gahan künstlerisch über ihre Ideen austauschen können.

Auch im neuen Jahrtausend knickt die Erfolgskurve der Band nicht ein. Vor allem in Deutschland können sich Depeche Mode auf ihre Fans verlassen: Seit 1993 landet jedes ihrer Alben auf Platz eins der Charts. Die Auftritte, die in den größten Hallen und Arenen stattfinden, sind restlos ausverkauft und gleichen teilweise eher Messen als herkömmlichen Konzerten.

Am 26. Mai 2022 stirbt Andy Fletcher an einem plötzlich auftretenden Riss der Hauptschlagader. Ein Schock erfasst die Musikwelt. Ob Depeche Mode weitermachen können und wollen? Das sind Fragen, über die die Fans monatelang rätseln.

Anfang Oktober 2022 herrscht dann Gewissheit: Gore und Gahan machen zu zweit als Depeche Mode weiter. Ein neues Album namens "Memento Mori" (lat. für "Bedenke, dass du sterben wirst"), dessen Songs noch zu Lebzeiten Fletchers entstanden sind, erschien im März 2023. Auch eine weltweite Tour folgte im Sommer.

Stand: 06.07.2023, 11:50 Uhr