Buchcover: "Machtspiele" von Alice Zeniter

"Machtspiele" von Alice Zeniter

Stand: 29.09.2023, 12:00 Uhr

In "Machtspiele" zeichnet die erfolgreiche Schriftstellerin Alice Zeniter ein Porträt der französischen Gesellschaft; mit Gelbwesten, erstarkenden Rechten – und der Utopie einer besseren Zukunft auf dem Land. Eine Rezension von Dirk Fuhrig.

Alice Zeniter: Machtspiele
Aus dem Französischen von Yvonne Eglinger.
Berlin Verlag, 2023.
416 Seiten, 26 Euro.

"Machtspiele" von Alice Zeniter

Lesestoff – neue Bücher 29.09.2023 05:27 Min. Verfügbar bis 28.09.2024 WDR Online Von Dirk Fuhrig


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Punktgenaue Beschreibungen

Alice Zeniter hat sich bereits in ihren vorherigen Büchern als genaue und humorvolle Beobachterin der Stimmungslagen unserer Gegenwart gezeigt. Seit ihrer Nominierung für den Prix Goncourt mit "Die Kunst zu verlieren" 2017 hat sie sich stilistisch noch deutlich weiterentwickelt.

Das zeigt sich in den punktgenauen Beschreibungen, mit denen sie ihre Figuren charakterisiert, hier einen der beiden Protagonisten: den jungen Bretonen Antoine, der sich in die Hauptstadt aufmacht, um den klassischen Aufstieg via Eliteausbildung zu beschreiten. Auf dem Land war er ein Einserschüler, in der Stadt ist er nicht mehr als Durchschnitt.

"Im Umgang mit Diplomaten- und Professorenkindern erlebte er seine Zugehörigkeit zur Mittelschicht auf neue Art. In dem Dorf, in dem er aufgewachsen war, hatte ihm eine gewisse Überlegenheit einen Vorteil verschafft, doch in seinem Pariser Umfeld bedeutete sie nichts anderes als soziale Unterlegenheit, und Antoine hatte bei sich gedacht, dass 'Mittelschicht’ im Grunde genau das meinte: keineswegs die goldene Mitte, sondern die Tatsache, immerzu der Reiche unter den Armen und der Arme unter den Reichen zu sein."

Eine Gegenfigur zum Aufsteigertypen

Antoine, stets im konventionellen Anzug, arbeitet für einen egomanischen Abgeordneten der Sozialistischen Partei in der Nationalversammlung. Gegenfigur zu diesem klassischen Aufsteigertypen ist eine Computer-Spezialistin, die sich nur mit ihrem Initial "L" ansprechen  lässt.

Sie ist mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einer der schlechteren Pariser Vorstädte aufgewachsen und hat sich in die Welt der Computerspiele, der Hacker und des Darknets hineinfallen lassen.

"Die meisten Mitglieder jener Foren waren Jugendliche wie sie, die sich langweilten oder ein Draußen nur in Form von Spott und Drangsalierung kannten, Teenager, die wussten, dass sie überhaupt keine Chance hatten, in der Fleischossphäre…"

also auf erotischem Feld

"…irgendetwas zu erreichen, die sich im Internet jedoch eine Macht zurückeroberten, die ihnen anderswo versagt blieb."

Cyberkriminalität und gesellschaftliche Spannungen

"L" – wenn man den Buchstaben ausspricht, klingt es im Französischen wie "elle", also "sie", die Frau – wird im Darknet anonym bedroht. Ihr deutscher Lebenspartner Elias wandert ins Gefängnis, weil er Unternehmen ausspioniert hat - ein Unterstützer von Julian Assange und Wikileaks ist er.

Cyberkriminalität und Spionage bilden den einen Pol dieses Romans. Die Spannungen in der französischen Gesellschaft den anderen: Der Polit-Karrierist Antoine entdeckt sein Herz für die Gelbwesten, die zu jener Zeit anfangen, Verkehrskreisel zu besetzen und gegen den Staatspräsidenten Emmanuel Macron zu protestieren – all das vor der Kulisse des unaufhaltsam mächtiger werdenden rechtsextremen "Front National", während das linke Parteienspektrum zerbröselt.

Zwischen Generationenkonflikten und Klassengegensätzen

Alice Zeniter taucht prägnant in die unmittelbare Gegenwart ein. Neben der politischen Radikalisierung ist der Stadt-Land-Gegensatz ein tragendes Element in diesem Roman, ebenso wie Generationenkonflikte und Klassengegensätze. Der Schriftstellerin gelingen wundervolle Beschreibungen von Milieus, Wohnungseinrichtungen oder ländlichen Szenen – mit älteren Leuten, die schlecht zu Fuß sind und ihre ebenfalls alten, hinkenden Hunde durchs Dorf ausführen.

Zeniter schlägt einen kraftvollen, mitunter süffisanten und spöttischen Ton an. Aber sie blickt trotz aller untergründigen Ironie immer mit Sympathie auf ihre Helden. Yvonne Eglinger hat Zeniters sinnenfrohe Adjektive, ihre Hingabe ans Schmecken, Riechen, Schwitzen, sehr mitreißend ins Deutsche übersetzt:

"Im Bus war es zu warm, eine schwüle, schwere Dschungelhitze. Die vom Regen durchnässten Körper der Fahrgäste klebten aneinander, sanken in die feuchten Sitze ein, saugten sich schmatzend an den großen Fensterscheiben fest. Der Boden war übersät von nassen Schuhabdrücken und Schleifspuren großer Taschen, von den Rinnsalen vor sich hin tröpfelnder Regenschirme."

Spannend und hoch amüsant

Dass das rettende Ende vor den Zumutungen des modernen Lebens in einer alternativen Landkommune in der Bretagne liegt, wirkt zwar ziemlich konstruiert und nicht sonderlich originell – es ist sogar ein bisschen kitschig.

Doch lassen wir diese gutgläubige Volte mal beiseite: Alice Zeniter ist mit "Machtspiele" ein extrem zeitgenössischer, genau beobachtender, spannender und hoch amüsanter Roman gelungen.