Buchcover: "Lichte Tage" von Sarah Winman

"Lichte Tage" von Sarah Winman

Stand: 28.03.2023, 12:00 Uhr

"Lichte Tage" erzählt eine Erlösungsgeschichte. Der 45jährige Ellis verliert die beiden ihm wichtigsten Menschen bei einem Unfall. Er droht in Einsamkeit zu versinken, doch die Erinnerung an lichte Tage gibt ihm die Hoffnung zurück, trotz allem glücklich sein zu können. Ein berührender, traurig-schöner Roman. Eine Rezension von Holger Heimann.

Sarah Winman: Lichte Tage
Aus dem Englischen von Elina Baumbach.
Klett-Cotta, 2023.
194 Seiten, 22 Euro.

"Lichte Tage" von Sarah Winman

Lesestoff – neue Bücher 28.03.2023 05:46 Min. Verfügbar bis 27.03.2024 WDR Online Von Holger Heimann


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Wer den Namen Oxford hört, der denkt gemeinhin an die berühmte Universität und Studenten im Talar. Die britische Schriftstellerin Sarah Winman kennt aus Kindheitstagen auch eine ganz andere Seite. Der Ostteil der Stadt, in dem sie ihren Roman angesiedelt hat, wird von Werkhallen und Arbeitervierteln geprägt. Der 45 Jahre alte Ellis arbeitet hier in einer Autofabrik. Er ist ein Tin Man, ein Blechmann – so heißt der Roman auch im Original. Keiner versteht es so wie er, Dellen auszubeulen. Schon als Lehrling hat er sich als Arbeiter mit besonderem Feingefühl entpuppt:

"Ellis nahm die Handfaust, platzierte sie hinter der Delle und begann, von oben mit dem Löffeleisen dagegenzuhämmern. 'Achte auf den Klang!', hatte Garvy gerufen. 'Gewöhn dich an den Klang. Der Ton sagt dir, wann du die richtige Stelle gefunden hast.' Und als Ellis fertig war, stand er auf, selbstzufrieden, denn das Blech war so glatt, als wäre es gerade eben erst gewalzt worden."


"Lichte Tage" erzählt von einer handwerklichen Kunstfertigkeit, die der Kunst verwandt ist. Wie ein Bildhauer formt Ellis sein Material. Vor allem aber handelt der Roman von tragischen Verlusten. Ellis, dem wir Mitte der 90er-Jahre begegnen, umgibt eine große Traurigkeit. In der Autofabrik schiebt er Nachtschichten, weil er nicht schlafen kann. Sein bester Freund Michael und seine Frau Annie sind fünf Jahre zuvor bei einem Autounfall umgekommen. Ellis‘ Leben ist geprägt durch die Erinnerung an ferne, lichte Tage und an eine Jugend voller Versprechungen. Unterstützt von seiner Mutter wollte er Maler werden. Aber nach ihrem Krebstod wurde ihm dieser Weg durch den autoritären Vater verbaut. In der Freundschafts- und Liebesbeziehung zum elternlosen Michael öffnete sich für Ellis ein neuer Freiheitsraum. Während einer Frankreichreise der beiden Freunde scheint die Möglichkeit zu einem ganz anderen Leben am intensivsten und farbigsten auf.

"Gebräunte Gesichter und bretonische Hemden – wir waren seit fünf Tagen in Frankreich und fühlten uns bereits wie Einheimische. Wir gingen jeden Abend in dieselbe Bar, unten am Strand. Eine heruntergekommene Hütte, in der tagsüber Sandwiches verkauft wurden und nachts Träume."

Festgehalten ist die Zeit in Michaels Tagebuch, auf das Ellis beim Aufräumen stößt. Die Notizen, die den zweiten Teil des klug komponierten Romans ausmachen, ergänzen die Perspektive von Ellis. Die einzigartige Beziehung der beiden Heranwachsenden, die sich gegenseitig Halt und Zuversicht geben, zerbricht auch dann nicht, als Annie auftaucht und bald darauf Ellis‘ Frau wird. Winman schildert ein Liebesdreieck, das frei von Eifersucht und Konflikten bleibt. Sie sieht darin keine idealisierte Darstellung.

"Ich würde lieber davon sprechen, dass ich eine Alternative zu einer ermüdend alten Narration eines Dreiecks geschaffen habe, von Eifersucht, von Menschen, die sich bekämpfen. Ich glaube, es gibt ein paar Menschen, die das anders machen können. Ich sage nicht, dass ich das kann. Je älter ich werde, umso mehr möchte ich Geschichten schreiben, die Lösungen anbieten."

Sarah Winmans dritter Roman ist voller erzwungener Abschiede – von Menschen, aber auch von Hoffnungen und Ambitionen. Ellis ist ein Übriggebliebener, sein Leben erschöpft sich zu Beginn des Buches beinah ganz im Kampf ums Überleben. Doch er stürzt nicht ab in Verzweiflung und Depression. Vielmehr denkt er, so heißt es zuletzt, dass seine Einsamkeit zu bewältigen sein könnte.

"Mir ist klar, dass die Geschichten, die ich schreibe, Erlösungsgeschichten sind. Ich wollte die Geschichte dieser Verluste erzählen. Aber ich wollte Ellis am Ende auch den Glauben daran mitgeben, dass es vielleicht die Chance gibt, glücklich zu sein."

Diese tröstliche Perspektive wirkt nicht aufgesetzt. Ellis muss alleine zurechtkommen, aber ihn hält die Erinnerung an eine – trotz der verpassten Gelegenheiten – positiv aufgeladene Vergangenheit. "Lichte Tage" ist ein Buch der großen Gefühle. Sarah Winman erzählt nicht weniger als die Geschichte einer Errettung. Sie balanciert dabei zuweilen auf einem schmalen Grat und entgeht manchmal nur knapp der Absturzgefahr hin zum Kitsch. Vorhalten muss man ihr einige Klischeebilder: das Licht in der Provence ist "gleißend", der Himmel von besonderem "Blau". Aber das sind wenige Ausrutscher in einem berührenden, traurig-schönen Roman.