Buchcover: "Ein ehrenhafter Abgang" von Eric Vuillard

"Ein ehrenhafter Abgang" von Eric Vuillard

Stand: 06.02.2023, 12:00 Uhr

Nicht ganz hundert Jahre dauerte die französische Kolonialherrschaft über Indochina. Sie endete 1954 mit der schmählichen Niederlage der Franzosen in der Dschungelfestung Dien Bien Phu. Der Autor Éric Vuillard erzählt diese Geschichte in seinem neuen Buch mit dem (ironischen) Titel: "Ein ehrenhafter Abgang". Eine Rezension von Wolfgang Stenke.

Eric Vuillard: "Ein ehrenhafter Abgang"
Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz, 2023.
144 Seiten, 20 Euro.

"Ein ehrenhafter Abgang" von Eric Vuillard

Lesestoff – neue Bücher 06.02.2023 05:56 Min. Verfügbar bis 06.02.2024 WDR Online Von Wolfgang Stenke


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In einer Arrestzelle

Indochina, Juni 1928, Arrestzelle einer Kautschukplantage der Firma Michelin.

"Ein Mann liegt auf dem Rücken, am Ende seiner Kräfte, erschöpft, beide Füße gefesselt, halb nackt. Der Mann windet sich auf dem Boden und versucht verzweifelt, seine Geschlechtsteile mit einem schmutzigen alten Lumpen zu verdecken."

So beschreibt der Autor Éric Vuillard die Szene, die sich einem französischen Gewerbeinspektor bot, als er im Auftrag der Kolonialverwaltung eine Serie von Selbstmorden unter den einheimischen Plantagenarbeitern untersuchte. Der Beamte stieß auf Gefängniszellen, Teil eines illegalen Zwangssystems, das die vietnamesischen Kulis drakonischen Strafen unterwarf.

"Der Gewerbeaufseher verfasst gewissenhaft seinen Bericht, die Behörden sprechen ein paar Empfehlungen aus, ihnen folgt weder Reform noch Verurteilung. In jenem Jahr erzielt die Firma Michelin einen Rekordgewinn von 93 Millionen Franc."

Folgen bis in die Gegenwart

Hinter Vuillards lapidaren Sätzen, die auf den ersten Seiten seines Buches stehen, steckt die Wut eines kapitalismuskritischen Linken auf das französische Kolonialregime. Es zerbrach Mitte der 1950er-Jahre am Aufstand der Vietminh in Indochina und später auch im Algerienkrieg.

Noch heute spaltet diese Geschichte die Gesellschaft Frankreichs. Für die politische Rechte unter Marine Le Pen gibt es da wenig zu bedauern. Umso vehementer attackiert der zeitgeschichtlich versierte Autor Éric Vuillard die herrschende Klasse seines Landes, die nach verlustreichen Kriegen notgedrungen einen Ausweg aus den Kolonialabenteuern Frankreichs suchte.

Von den Greueln der kolonialen Ausbeutung

"Ein ehrenhafter Abgang" lautet der Titel von Vuillards jüngstem Buch. Der Autor spannt den Bogen seiner reportagehaften Erzählung von den Greueln der kolonialen Ausbeutung bis zum fluchtartigen Abzug der Amerikaner 1975 aus Vietnam. Die nämlich setzten den blutigen Krieg fort, als die Franzosen 1954 nach der Niederlage von Dien Bien Phu das Land verließen.

Vuillard nimmt vor allem die Parlamentarier aufs Korn, denen die Aufgabe der Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg lange undenkbar erschien. Er zitiert etwa Edouard Herriot, Präsident der Nationalversammlung und altgedienter Spitzenpolitiker:

"Wenn wir den Kolonialvölkern die gleichen Rechte zugestünden, wären wir die Kolonie unserer Kolonien."

Die Hintertreppe der Geschichte

Vuillard beleuchtet gewissermaßen die Hintertreppe der Geschichte. Herriot wird vom Autor als korpulenter Greis karikiert, den mehr als die Debatte über den Krieg in Indochina sein Schokoladen-Eclair in der Sitzungspause interessiert. So funktioniert die Methode Vuillard: Er inszeniert Geschichte und vergibt Noten für die politische Haltung. Farbige Details machen seine Schilderung lebendig.

Nicht selten aber schwingt der Autor sich dabei zum allwissenden Erzähler auf. Im Fall Herriot kennt er sogar die Bauchschmerzen, die den alten Mann zwingen, im Restaurant unter dem Tisch den Gürtel zu lockern. Um wieviel sympathischer wird da doch der Sozialist Pierre Mendès France gezeichnet:

"Dieses Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen, schutzlos dem Zweifel ausgeliefert. (…) In Mendès Gesicht  liegt etwas Beruhigendes und Besorgtes, etwas Verletzliches und Rationales, etwas Hartnäckiges und Zögerliches, das seinen Charme ausmachte."

Kein ehrenhafter Abgang

Mendès France war der Mann, der 1954 in Genf den Waffenstillstand mit Ho Chi Minh aushandeln sollte. Da hatten die Finanzkapitalisten von der "Banque de l’Indochine" in Paris, die Vuillard als vielfach vernetzte und verschwägerte Bourgeois beschreibt, ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht und die Firmenbeteiligungen in Vietnam abgestoßen.

Das alles, während Fremdenlegionäre, Wehrpflichtige und Kolonialsoldaten in blutigen Dschungelkämpfen aufgerieben wurden. Auch den USA, die den Krieg im Zuge ihrer antikommunistischen Rollback-Politik fortführten, gelang zwei Jahrzehnte später kein ehrenhafter Abgang.

Zwischen Erzählung und Sachbuch

Am Ende, so Vuillard in seiner Schlussbemerkung, hatten die Vietnamesen mehr als dreieinhalb Millionen Tote zu beklagen. Gut, dass der Autor in seinem schmalen, aber lesenswerten Buch diese Geschichte neu beschrieben hat: dokumentarisch unterfüttert, mit fiktiven Details angereichert und illustriert. Dokufiktion, changierend zwischen Erzählung und Sachbuch.