Rez. Emmanuelle Fournier-Lorentz: Villa Royale
Aus dem Französischen von Sula Textor, Zürich 202
Dörlemann Verlag, 288 Seiten, 25 Euro
Falls wir Geld hatten, kamen die Möbel nach - falls nicht, hatten wir keine Möbel
Wenn fast alle mittlerweile Autofiktion schreiben, also Elemente der eigenen Biographie zu Literatur machen, dann ist es vielleicht an der Zeit, mal wieder Geschichten zu erzählen, die dem Leben anderer abgelauscht sind. Mag sich die französische Autorin Emmanuelle Fournier-Lorentz gedacht haben, als sie ihr Romandebüt "Villa Royale" vorlegte.
"Wir zogen immer in der kalten Jahreszeit um (…). In unsere Mäntel gehüllt saßen wir im seltsamen Geruch der Autoheizung, meine Mutter und Charles vorn, Victor und ich auf der Rückbank, die Stirn an die Scheibe gelehnt. Falls wir Geld hatten, kamen die Möbel im Lastwagen nach – und falls nicht, hatten wir eben keine Möbel."
Flucht aus Paris
So erinnert sich die Teenagerin Palma Gauthier, die Erzählerin des Romans, an die Zeit ihrer späten Kindheit, so um die Jahrtausendwende. Mit Mutter und Geschwistern flüchtet sie aus Paris fast fünf Jahre lang quer durch Frankreich – zu Beginn sogar auf die Insel Réunion, die ehemalige Kolonie der Franzosen im Indischen Ozean.
Prekäres Nomadenleben
Die Gauthiers, das sind neben Palma und ihrer Mutter der große Bruder Charles und der kleine Victor. Im Roman von Emmanuelle Fournier-Lorentz ist der eine ein äußerst attraktiver Jugendlicher, nach dem sich am Strand die Frauen umdrehen, der andere ein hochbegabter kleiner Junge, der auf den langen Autofahrten Schach gegen sich selbst spielt. Die vier sind nach dem frühen Tod des Vaters aus ihrem Häuschen ganz im Süden von Paris – ihrer "Villa Royale" - abgehauen und führen ein prekäres Nomadenleben in hastig improvisierten Wohnungen. Aveyron, Tours, Nantes, Marseille, Montpellier sind nur ein paar Stationen dieser Flucht. Deren Grund erschließt sich erst allmählich während nächtlicher Autofahrten, durch Gespräche in der Intimität des engen Raumes eines alten Renault 5, am Steuer die pausenlos qualmende Mutter:
"Hinter unseren fluchtartigen Umzügen verbarg sich ein ganz einfaches klares Bedürfnis: dem Tod ausweichen. Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen, nie irgendwo richtig ankommen, damit sich bloß nichts von dem, was geschehen war, wiederholte. Keine Wurzeln, keine Freunde, keine Tragödien."
Vater ist gestorben
Die Tragödie in diesem Roman, das ist eben der Tod des Vaters, der sich mit einer Überdosis Insulin das Leben nahm. Mit den Hintergründen dieses Suizids rückt die Mutter erst heraus, als Palma auf einem Parkplatzklo an der Autoroute über ein vollgekokstes Pärchen gestolpert ist: Kokain war auch im Spiel als der Vater starb.
"'Na, weil er diesem Typen Geld geschuldet hat. Diesem Lanvin', sagte meine Mutter und stand auf. (…) 'Seinem Lieferanten, im Geschäft. Das hast Du doch gewusst, oder?' 'Nein' sagte Charles (…). – 'Dann weißt du jetzt, dass dieser Lanvin seine Erpressung mit mir weitertreibt. Er will sein Geld, das ist klar.'"
Drohbriefe folgen der Familie
Wohin die Familie auch flüchtet, die Drohbriefe des halbseidenen Geschäftsmanns folgen auf dem Fuß. Von Schule zu Schule wechseln die Geschwister. Halt finden die Gauthiers nur an einander. Palma, die Erzählerin, berichtet lakonisch:
"Unser Leben mochte zwar aus den Fugen geraten sein, aber es folgte wieder einem festen Rhythmus: Alle drei Monate zogen wir weiter."
Die Geschwister wollen der Erpresser beseitigen
Charles, der Adonis, den jeder gleich mag, kifft, knackt Autos und macht Geld mit nächtlicher Zockerei und womöglich auch als Dealer. Der kleine Victor wird zum Chefintellektuellen der Familie. Und Palma, gegen Ende ist sie 15, trägt eine unbändige Wut in sich - auf Lehrer wie auf Psychologen. Während das Bild des toten Vaters im Laufe der Jahre verblasst, schmieden die drei Geschwister Pläne, um sich an Lanvin zu rächen. Insulin, geklaut aus dem Medikamentenbestand ihrer zuckerkranken Großmutter, ist das Mittel, mit dem sie den erpresserischen Gläubiger beseitigen wollen.
Die Geschichte nimmt die entscheidende Wendung, als die Gauthiers wieder nach Paris zurückkehren, in die Gegend, in der immer noch ihr altes, längst verkauftes Haus steht, die "Villa Royale". Es wäre ein übler Spoiler zu verraten, was dann geschieht. Festzuhalten bleibt: Die Autorin Emmanuel Fournier-Lorentz ist mit einem sehr beachtlichen Erstling gestartet - der dichten Beschreibung einer familiären Katastrophe. Das Buch lebt vom rotzigen und dann doch wieder einfühlsamen Ton der Erzählerin Palma, aus dem Französischen adäquat übertragen von Sula Textor. - Ich wette: Fournier-Lorentz’ "Villa Royale", diese Mischung aus Roadmovie und Adoleszenzdrama, wird die Filmindustrie sich nicht entgehen lassen.