
"Unerwartete Nachrichten" von Julio Cortázar
Stand: 18.07.2022, 07:00 Uhr
Das Universum der "Cronopien": Für den französisch-argentinischen Schriftsteller Julio Cortázar waren die seltsamen Dinge, die sich zwischen Realität und Fantasie abspielen, die Hauptsache. Neue Erzählungen geben Einblick in den literarischen Kosmos des Weltbürgers aus Buenos Aires. Eine Rezension von Dirk Fuhrig.
Julio Cortázar: "Unerwartete Nachrichten"
Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michi Strausfeld Berenberg-Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, 25 Euro
Die kleinsten Dinge im Leben
Julio Cortázar interessierte sich auch für die kleinsten Details im Leben:
„Die medizinische Wissenschaft wirkt in den Krankenhäusern Wunder, und es kommt der Tag, an dem man mit den diversen Keimen, Mikroben und Viren, die uns dazu nötigen, in ihren weißen Schutzräumen Zuflucht zu suchen, ein für alle Mal aufgeräumt haben wird. Das Einzige, was die Wissenschaft niemals wird besiegen können, sind die Brotkrümel.“
Die Wörter explodieren wie ein Feuerwerk
Die Kurzgeschichte über die Krümel-Plage gehört zu den amüsantesten Texten in diesem höchst kurzweiligen Band, in dem der Schriftsteller sich als Meister der Prägnanz präsentiert. Selbst wenn sich ein einziger Satz über anderthalb Seiten erstreckt, wie eine spöttische Suada über den (Aber-)"Glauben der Dritten Welt", hat man nicht den Eindruck von Getragenheit - im Gegenteil: die Wörter explodieren wie ein Feuerwerk des Esprits.
Das gilt nicht nur für die herrlichen Alltagsanekdoten, sondern auch für intellektuelle, literaturtheoretische Reflexionen.
„Jenes Gefühl des Fantastischen, wie ich es gern nenne, weil ich glaube, dass es vor allem ein Gefühl ist oder etwas, das sogar noch tiefer sitzt, jenes Gefühl begleitet mich schon mein ganzes Leben, seit frühester Kindheit, und lange, sehr lange bevor ich zu schreiben begann, weigerte ich mich, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie meine Eltern und Lehrer sie mir aufzwingen und erklären wollten.“
Die klaren Laken der Realität
Julio Cortázar interessierte sich für die kaum wahrnehmbaren Brösel zwischen den klaren Laken der Realität:
„Ich habe die Welt immer auf eine andere Art gesehen, hatte immer das Gefühl, dass es zwischen zwei Dingen, die klar umrissen und voneinander geschieden scheinen, Zwischenräume gibt, durch die, zumindest für mich, etwas Eingang fand, hindurchschlüpfte, das sich nicht mit Gesetzen, nicht mit Logik, nicht mit rationaler Vernunft erklären ließ.“
"Cronopien" - die kleinen imaginären Wesen
"Cronopien" nannte Cortázar die kleinen imaginären Wesen, die die Verbindung zwischen Traum, Fantasie und der klar beschreibbaren äußeren Welt herstellen. Michi Strausfeld, Herausgeberin des Bandes, hat den Schriftsteller gut gekannt. In ihrem klugen Nachwort beschreibt sie die Eigenschaften dieser Wundertierchen aus Cortázars literarischem Kosmos:
„Borstig sind sie, unordentlich und lässig, verträumt und intuitiv, poetische Nonkonformisten, vertrauensvolle Optimisten, humorvolle Lebenskünstler, beste Freunde, die philosophische Nonsens-Dialoge führen … vitale Alter Egos des Autors.“
Ein besonders weltläufiger und reisefreudiger Vertreter des "magischen Realismus"
Mit Romanen wie "Die Gewinner" und "Rayuela" wurde dieser argentinische Schriftsteller, der überwiegend in Paris lebte, berühmt. Cortázar war Teil des "Booms", der dazu führte, dass Literatur aus Lateinamerika in den 60er- und 70er-Jahren in Europa bekannt und populär wurde. Und er war ein besonders weltläufiger und reisefreudiger Vertreter des "magischen Realismus", für den sein kolumbianischer Schriftsteller-Kollege Gabriel García Márquez den Literatur-Nobelpreis erhielt:
„Was die Fiktion betrifft, erlaube ich mir, dich an ein Buch namens Hundert Jahre Einsamkeit zu erinnern, von dem eine Million Exemplare verkauft wurden“, sage ich listig. „Das Imaginäre oder Fantastische auf den Verdacht hin abzulehnen, es leiste einem billigen Eskapismus Vorschub, ist eine Sache, eine andere dagegen, es um seiner selbst willen abzulehnen, ein Szenario, von dem wir in unseren Ländern zum Glück weit entfernt sind.“
Mit diesen Zeilen reagierte Cortázar auf Kritik, dass er viel zu bourgeois sei und angenehm in Paris flaniere, während sich andere Intellektuelle dem bewaffneten Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus in Süd und Mittelamerika angeschlossen hätten.
Hochliterarische und politisch reflektierende Prosa
"Unerwartete Nachrichten" ist eine unerhört anregende Mischung aus hochliterarischer und politisch reflektierender Prosa. Es entsteht das Bild eines weltläufigen Literaten, der in Buenos Aires ebenso zu Hause ist wie in Paris, in Neu-Delhi wie in Istanbul, London, Madrid oder Mexiko-Stadt. Der Band ist eine Aufforderung, das reichhaltige Werk dieses genialen Sprachjongleurs Julio Cortázar intensiver und wieder zu entdecken.