Buchcover: "Store Kongensgade 23" von Søren Ulrik Thomsen

"Store Kongensgade 23" von Søren Ulrik Thomsen

Stand: 20.11.2023, 12:00 Uhr

Für den Dichter Søren Ulrik Thomsen ist die "Store Kongensgade 23" in Kopenhagen ein lebensbestimmender Ort gewesen, und das Jahr 1972 eine prägende Zeit. In einem Essay kehrt er zurück in seine Jugend – und reflektiert zugleich über das Älterwerden und seinen Lebensweg. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Søren Ulrik Thomsen: Store Kongensgade 23. Ein Essay.
Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer.
Suhrkamp Verlag, 2023.
126 Seiten, 20 Euro.

"Store Kongensgade 23" von Søren Ulrik Thomsen

Lesestoff – neue Bücher 20.11.2023 05:52 Min. Verfügbar bis 19.11.2024 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer


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Mit dem Tod der Mutter endet das Kindsein; die Verlorenheit, war sie nicht immer schon spürbar, beginnt. Zumindest scheinen viele Autorinnen und Autoren dieses die eigene Existenz erschütternde Ereignis zum Schreibanlass zu nehmen – von Doris Lessing über Peter Handke bis zu Annie Ernaux. Mit dem Tod der Mutter öffnet sich zugleich die Vergangenheit, und es tut sich ein Blick auf in das Durcheinander der eigenen Ängste und Vorstellungen.

"Am 14. März kurz nach Mitternacht starb meine Mutter. Es ist Zeit, der Store Kongensgade 23 wieder einen Besuch abzustatten."

Søren Ulrik Thomsen wurde 1956 geboren. Im Alter von 16 Jahren kam er mit seiner Familie nach Kopenhagen. In der Store Kongensgade 23 lebte er lediglich ein Jahr, aber an diesem Ort scheint etwas Lebensprägendes zu kristallisieren, oder die mit dem Ort verbundene Zeit markiert eine Grenze, die das Davor vom Danach trennt.

"Gibt es das eine Jahr oder den einen Ort im Leben eines Menschen, der sich im Lauf der Zeit als der wichtigste erweist? Den Punkt, an dem die Spitze des Zirkels platziert werden kann, weil alles Vorherige traumartig auf ihn hindeutet, und alles Spätere zurück auf dies Zentrum zeigt, dessen Bedeutung man allerdings erst viel später erkennt?"

Es gibt diesen Ort und dieses Jahr für Thomsen. Die Familie zieht 1972 von der Halbinsel Stevns in die Großstadt; der Vater ist Bankassistent und wird in die Zentrale versetzt. Das eine Jahr im vierten Stock der Store Kongensgade 23 ist für den Jugendlichen von schwer verständlichem Leid und präzise erinnertem Glück geprägt.

Es ist ein magisches Jahr, es bringt einen rauschhaften Aufbruch mit sich, und obwohl es für den Autor 50 Jahre zurückliegt, hat es nichts verloren von dieser geheimnisvollen Macht über sein Leben. Der Tod der Mutter lässt ihn die Ereignisse dieser Zeit noch einmal reflektieren.

In diesem poetischen Essay schildert der vor allem als Lyriker bekannt gewordene Søren Ulrik Thomsen in kurz aufleuchtenden Bildern das Vergangene, und was es mit der Gegenwart zu tun hat.

Je mehr die Zukunft zusammenschmilzt, Alter und Krankheiten den Radius einschränken, desto angewiesener scheint man auf die Erinnerungen, die allerdings ebenfalls fadenscheinig werden. Dass gerade das Jahr 1972 für den Autor von so großer Bedeutung ist, hat mit einer Erkenntnis zu tun, die für den Alternden eine melancholisierende Wirkung hat:

"Ohne Erwartung dessen, was kommt, kann man unmöglich leben, und in späteren Jahren habe ich erfahren, wie all unsere Handlungen, Gedanken und Gefühle, so absolut sie sich auch in einem funkelnden Präsens entfalten und völlig undenkbar wären ohne ihre Voraussetzungen in der Vergangenheit, träumerisch der Zukunft zugewandt sind, wie ein Blatt zur Sonne."

Der Autor fühlt sich "out of sync", die Erscheinungen der Gegenwart sind nicht mehr mit den eigenen Erfahrungen übereinzubringen, und vor dem Alter graut es ihn, vor den Gebrechen, dem Hinschwinden der Persönlichkeit und der Sinne. Vielleicht ist es dieses Grauen, das ihm auch die Verlorenheit in Erinnerung ruft.

ie hat das Jahr in der Store Kongensgade ebenso bestimmt wie die Euphorie. Eine Angst und Bekümmertheit, die mit den schweren Depressionen, den Krankenhausaufenthalten, den Elektroschockbehandlungen der Mutter in ihn eingedrungen ist und in ihm überwintert hat.

Es sind bedrückende Schilderungen einer archaisch anmutenden psychiatrischen Praxis und der Verunsicherungen, die diese Krankheit in einem pubertierenden Jungen auslösten. Viele Jahre bleibt dieser Schatten, bis die Mutter tatsächlich gesundet und in ein normales Leben zurückkehrt. Zärtliche Passagen berichten davon.

Thomsen erzählt auch von den Gedichten, die sie später schrieb, und über die der Sohn – ein veröffentlichter Dichter – mit ihr gesprochen hat. Vieles wird in diesem Essay gestreift, vieles angedeutet, es ist eine sehr persönliche, aber nie leutselige Auseinandersetzung mit dem eigenen Werden. Zumal die Leerstellen, das Nichtwissen, das Unverstandene immer wieder thematisiert werden.

"Was ich weiß, darüber muss ich nicht schreiben, denn ich weiß es ja schon."

Søren Ulrik Thomsens „Store Kongensgade 23“ ist, anders als der Titel vermuten lässt, keine statische Angelegenheit: Der Ort ist lediglich der Ausgangspunkt seines Lebens, eine urbane Straße, die sein Schreiben und seine Vorstellungen und Fantasien geprägt hat. Von hier aus kehrt er in ausschweifenden, mäandernden Sätzen zurück an die Schmerzpunkte seines Lebens, und zu den Glücksmomenten, in einer für Nuancen offenen Sprache, die sinnliche Bilder für die vielfältigen Eindrücke findet, und in Episoden, die verdichtet die Begegnungen mit ihm wichtigen Menschen beschreiben.