Hörbuchcover: "Steinhammer" von Jörg Thadeusz

"Steinhammer" von Jörg Thadeusz

Stand: 25.05.2023, 12:00 Uhr

Eine Hörbuchlesung, die bitte nie endet: Jörg Thadeusz erzählt einen Teil seiner Familiengeschichte: vom Bollerkopf Edgar und seinen Freunden, die in der Nachkriegszeit in Lütgendortmund von einem besseren Leben träumen. Zum Heulen schön. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Jörg Thadeusz: Steinhammer
Argon Verlag, 2023.
8 Stunden 17 Minuten, ca. 21 Euro.

"Steinhammer" von Jörg Thadeusz (Hörbuch)

Lesestoff – neue Bücher 25.05.2023 05:26 Min. Verfügbar bis 24.05.2024 WDR Online Von Corinne Orlowski


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Das sind mal kernige Typen im Friseursalon von Jupp Woicik: Herr Miebach, taub, nur ein Arm. Herr Wichmann, Staublunge vom Bergbau. Und das Gesicht von Herrn Kafinek, genannt der Schäbbige – eine einzige Herausforderung, überall Narben und Wülste. Hier, in diesem Salon, hilft der junge Edgar seinem Onkel. Die Steinhammerstraße in Lütgendortmund in den Fünfzigerjahren ist lebendig, aber auch trostlos. Hier wird Tag und Nacht Kohle der Zeche Oespel und Germania verladen. Draußen donnern die Güterwaggons, drinnen schallen die Schlager. Und zwischen all den kriegsversehrten Männern und geschundenen Frauen träumt Edgar mit seinen Freunden Nelly und Jürgen von einem besseren Leben.

"Edgar wollte Filmplakate malen. Überall Farben, Leinwände, alle möglichen Pinsel, herrlich. Allein der Geruch. Nicht einen Tag nach dem nächsten irgendwelchen Säufern in Jupps Laden Birkin-Haarwasser in die Schmandköpfe reiben. Er wusste bisher nur nicht, wie er das seinem Stiefvater erklären sollte."

Edgar kann sich noch gar nicht vorstellen, dass man Kunst studieren, geschweige denn von ihr leben kann. Aber fasziniert ist er – und talentiert. Allerdings ist er auch ein Bollerkopf, redet viel und laut und ständig. Und wenn die Wut einmal hochkommt, nimmt man sich vor ihm besser in Acht. Nur wenn Edgar mit Papier zu tun hat, wird er ein anderer und unternimmt Fantasiereisen. In der Steinhammerstraße aber gibt es nur bodenständige Arbeit, Pflichtgefühl, und den Pütt.

"Was war bei dieser Arbeit im Pütt eigentlich nicht schlimm, fragte sich Edgar. Sie lassen dich in einem Korb Hunderte Meter tief in einen Schlund hinunter. Wenn du aus dem Ding aussteigst, ist es heiß und staubig. Es gehörte zu den Tabus der Männerkundschaft in Jupps Salon: Hitler, der Scheißkrieg und schlecht über Bergleute reden. Kein schlechtes Wort über den Bergbau, sonst Verdammnis."

Jörg Thadeusz erweckt in seinem Roman "Steinhammer" mit Humor und Herz ureigene Figuren und eine ganze Straße in der Montanregion zum Leben. Über Dialoge, Musik und Anspielungen kreiert er eine Retro-Atmosphäre, die einen sofort einhüllt. Thadeusz erzählt stimmungsvoll und so lakonisch, da kommt man aus dem Grinsen gar nicht mehr raus – und das, obwohl die Nachkriegszeit in der Steinhammerstraße alles andere als lustig ist. Zum Glück haben Edgar, Nelly und Jürgen noch ihre Freundschaft. Die drei sind so nahbar gezeichnet, dass man stets mit ihnen fühlt. Natürlich ist Onkel Jupp nicht erfreut, als er von Edgars heimlicher Bewerbung am Theater hört.

"Gestern Abend brannte dann die Luft. Jupp hatte ordentlich einen sitzen. War fast gar nicht mehr zu verstehen. 'Verrat' habe ich verstanden und 'undankbarer Saukerl'. Ich wollte mich aber auch nicht entschuldigen. 'Warum nicht?', fragte Jürgen. 'Weil ich keinen umgebracht hab, Mann. Ich will nur nicht dreißig Jahre in dieser Scheißstraße irgendwelchen Scheißleuten die Murmel rasieren, ist das so schwer zu verstehen?'"

Aber Edgar schafft es tatsächlich. Er bekommt eine Lehre zum Schaufensterdekorateur, wird wegen seiner Arbeit dann entdeckt und geht an die Düsseldorfer Kunstakademie. Jürgen zieht es nach Amerika und Nelly nach Hamburg. Trotz der Entfernung bleiben sie aber ein Leben lang verbunden.

"Gerade erst 14 Jahre alt, aber schon ein Hitparadenstürmer in Übersee: Franky Lymon und die Teenager mit ‚Why do fools fall in love‘. Edgar sprang als Erster auf, kurze Zeit später Jürgen. Nelly brauchte wegen der Schmerzen immer noch etwas länger, konnte aber auch nicht sitzen bleiben. Als das Saxofon-Solo kam, zog Edgar das geöffnete Fenster noch weiter auf. Das sollte die ganze Straße hören."

Man wünscht sich, Jörg Thadeusz' Lesung würde nie enden. Mit "Steinhammer" erzählt er einen Teil seiner Familiengeschichte – von seinem Großcousin Norbert Thadeusz, der es tatsächlich bis zum Professor für Monumentalmalerei geschafft hat. Und so ist es nur folgerichtig, dass er dem Roman seine unvergleichliche, angenehm sonore Stimme verleiht. Er liest lebendig und zieht die Sätze manchmal so zusammen, dass ganze Absätze zu einem einzigen rasanten Gedankengang werden. Das macht das Hörbuch zum Erlebnis.

"Steinhammer" ist zum Heulen schön. So eindringlich, leichtfüßig wie tiefgründig erzählt Thadeusz seine Geschichte, dass einem Edgars Aufstieg und das Auseinanderreißen der Freundschaft ans Herz geht. So sehr, dass das Ende schon fast zu schmalzig ist. Aber ach was, die Tränen gehören zum Leben dazu. Dieser Roman hier erweicht selbst den härtesten Kumpel.