Buchcover: "Ein Sommer in Niendorf" von Heinz Strunk

"Ein Sommer in Niendorf" von Heinz Strunk

Stand: 14.06.2022, 07:00 Uhr

Während Heinz Strunks Helden früher vom Aufstieg träumten, wird im neuen Roman die Lust am Abstieg zelebriert. Ein unausstehlicher Wirtschaftsanwalt lernt während eines Sommers in Niendorf die Wonnen der Gewöhnlichkeit schätzen.
Eine Rezension von Holger Heimann.

Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf
Rowohlt Verlag, 2022.
242 Seiten, 22 Euro.

"Ein Sommer in Niendorf" von Heinz Strunk

Lesestoff – neue Bücher 14.06.2022 05:47 Min. Verfügbar bis 14.06.2023 WDR Online Von Thilo Jahn


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Ein Held, der aus der Reihe fällt

Heinz Strunk ist ein Spezialist für das Milieu der Abgehängten und Vergessenen mit einem feinen Sensorium für die Nöte und Zwangslagen bemitleidenswerter Trottel. Georg Roth aber fällt aus der Reihe. Der Held von Strunks neuem Roman ist ein erfolgreicher und vermögender Wirtschaftsanwalt aus einer Unternehmerfamilie.

Der dynamische, attraktive 51jährige ist geschieden, hat eine Tochter und wechselnde Liebschaften. Die bedrängenden sexuellen Nöte, die Strunks Helden oft peinigen, kennt Roth nicht. Er hat sich ein Vierteljahr frei genommen von der Arbeit in der Großkanzlei, um nach Niendorf zu fahren. Der Urlauber ist sich sicher, dass er in dem mit Bedacht gewählten kleinbürgerlichen Ostseebad keine Bekannten trifft und Zeit findet, die Geschichte der Unternehmerfamilie Roth niederzuschreiben.

"In drei Monaten soll eine erste Fassung stehen. Hat er mal so ausgerechnet: eine Stunde gleich eine halbe Seite mal 5 (Tagespensum) mal 90 (Tage) gleich 225 Seiten. Es ist sein erstes Buch, er kennt sich mit ersten und zweiten und dritten Fassungen nicht aus, er hat es ohnehin nicht so mit Zahlen, aber was ihm möglicherweise an Talent (vielleicht steckt in ihm auch ein geborener Schriftsteller, dessen Genie mühelos und stetig in die Zeilen sickert) abgeht, wird er, der mustergültig Disziplinierte, durch Ausdauer, Fleiß und Beharrlichkeit wettmachen."

Geprägt von Arroganz und Gefühlskälte

Die personale Erzählperspektive ermöglicht es Strunk, in den Kopf seiner Hauptfigur zu blicken und ihm beim Denken zuzuschauen. Von Beginn an wird der Anwalt dabei als ein Mann kenntlich, der auf sich selbst große Stücke hält, von anderen dafür umso weniger.

Strunk stellt die Arroganz und Gefühlskälte Roths geradezu aus. Mit den Losern dieser Welt will er nichts zu tun haben, schon gar nicht mit dem Mann, der neben dem Strandkorbverleih das örtlich Spirituosengeschäft betreibt und der immer wieder seinen Weg kreuzt.

"Alkoholiker, denkt Roth, freuen sich immer diebisch, ihr Schicksal mit anderen (vermeintlichen) Alkoholikern zu teilen. Bredas Augen sind noch glasiger als vorhin; hat wohl schon einiges an Weinen, Likören und Spirituosen verkostet. Der Laden ist dunkel und trotz der Hitze draußen seltsam klamm. Schimmelig. Renovierungsbedürftig. Schlechte Schwingungen, Alkoholschwingungen, machen platt, ziehen runter. Ob das Likördepot so etwas wie eine Stammkundschaft hat? Laufkundschaft? Sind Kunden überhaupt erwünscht? Oder betreibt Breda den Laden nur zum Eigenbedarf?"

Das instabile Persönlichkeitsgerüst bricht zusammen

Breda gehört zu einer anderen Welt, und mit ihm sind wir wieder im bekannten Strunk-Kosmos. Während der Monate in Niendorf wird Roth scheinbar unaufhaltsam in dieses prekäre Universum des Suffs und der Demütigungen hineingezogen. Mit seinem Buchprojekt kommt er nicht voran, das Schreiben ist doch schwieriger, als er sich das vorgestellt hat.

Und weil die Arbeit fehlt, die all die Jahre verlässlich den Alltag strukturiert hat, bricht rasch das nicht sehr stabile Persönlichkeitsgerüst zusammen und der Anwalt entpuppt sich als bedürftiger Schwächling. Immer öfter ist er zu Gast in Bredas Spirituosenladen und auf Kneipentour.

"Roth schiebt sich im Stotterschritt über die menschenleere Promenade, seine Knie klappen wie alte Türangeln. Er tritt in etwas und ist sich sicher, dass es Aas war, obwohl er noch nie in Aas getreten ist. Er stolpert, fängt sich mit einer Hand ab, greift in etwas Weiches, Feuchtes; die Hand rutscht ab, und er schlägt mit voller Wucht aufs Gesicht."

Die Lust am Niedergang

Heinz Strunk erzählt mit derbem Humor vom steilen Abstieg eines Widerlings. Roths Erbärmlichkeit wird dabei zuweilen derart überakzentuiert, dass der Roman ins Groteske kippt. Bei einer Begegnung mit seiner Ex-Frau etwa fällt der Anwalt völlig aus der Rolle und wird handgreiflich.

Doch der absolute Kontrollverlust ist nicht das Ende. Zusammen mit Breda und dessen draller Freundin Simone entdeckt Roth die Wonnen der Gewöhnlichkeit und ergibt sich der Sehnsucht nach einem Alltag ohne Anstrengung und Leistungsdruck. Der Sommer in Niendorf verändert nicht nur seine Perspektive auf die Welt, sondern auch den Blick auf das eigene Leben. Während Strunks Helden früher vom Aufstieg träumten, wird an der Ostsee die Lust am Niedergang mit Cola-Rum und sinnfreiem Kneipentalk zelebriert.