Buchcover: "Winterpoem" von Maria Stepanova

"Winterpoem 20/21" von Maria Stepanova

Stand: 06.06.2023, 12:00 Uhr

"Winterpoem 20/21" von Maria Stepanova: Eine russische Stimme, die die Sprache Putins wieder poesiefähig macht: Mit ihrem Wintergedicht stemmt sich Maria Stepanova gegen innere und äußere Kälte. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Maria Stepanova: Winterpoem 20/21
Aus dem Russischen übersetzt von Olga Radetzkaja.
Suhrkamp Verlag, 2023.
128 Seiten, 22 Euro.

"Winterpoem 20/21" von Maria Stepanova

Lesestoff – neue Bücher 06.06.2023 04:43 Min. Verfügbar bis 05.06.2024 WDR Online Von Dirk Hohnsträter


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"Auf den Plätzen und Straßen der Stadt
eine Leere, als wäre Krieg, als wäre Revolution,
als wäre Epidemie, als wäre WM-Finale –
und von oben fällt Morgenschnee auf sie herab."

Ein Langgedicht, verfasst im ersten Corona-Winter, das sich liest wie ein Prolog zum darauf folgenden Krieg – so könnte man Maria Stepanovas neuestes Buch beschreiben. Oder als eine Bestandsaufnahme Russlands unter der Herrschaft Putins. Oder sogar als einen Versuch, die Sprache des Imperiums für die Poesie zurückzugewinnen.

"In der Winterluft die Schlagstöcke der Polizisten,
der gelbe Himmel, auf Dampfsäulen ruhend,
die Menschen in ihren Pelzen Mützen Polizeitransportern,
die Menschen an ihrem Wohnsitz
zwischen milchigen Zimmerpflanzen,
zwischen sprachlosen Haustieren,
ausgestattet mit Kleidern (warm) und Getränken (kalt):
Wir, zwischen schützenden Schichten von Schnee,
wie Fotos unter Seidenpapier,
plötzlich gestoppt."

In zwei Teilen und einem Postskriptum ist von äußerer und innerer Kälte die Rede, von Pandemie und Polizei, von einem eingefrorenen, angehaltenen Leben. Man fröstelt förmlich beim Lesen, die kargen, schwarzen Zeilen auf dem üppigen Weißraum des Papiers wirken wie eingeschneit. Keine leichte Lektüre, bei der es ums Überleben geht unter widrigsten Umständen, ums Reden hinter vorgehaltener Hand und um schiere Brutalität.

"Ein Fremder bin ich, Barbar, kein native speaker,
ein fauler Strick, mit inzwischen schlohweißem Haar.
meine toten Lippen murmeln getische Wörter,
meine toten Füße betreten gehärtetes Wasser.
Was kann ich erzählen, um deine Sehnsucht zu lindern?"

Katharina Raabe, Stepanovas deutsche Lektorin, berichtete kürzlich, dass es für viele ukrainische Autoren unerträglich geworden sei, die russische Sprache zu hören, aus welchem Mund auch immer. Stepanovas "Winterpoem" liest sich, als wollte die Dichterin die Sprache des imperialen Russland aus der Gewalt befreien, indem sie von eben dieser Gewalt spricht – und indem sie das Russische durchsetzt mit weltliterarischen Anspielungen.

Durch seine zahlreichen Referenzen auf Ovid wird Stepanovas Gedicht zu einem polyphonen Gemisch aus Antike und Aussichtslosigkeit.

"Als hätten die stummen Empfänger meiner Briefe auch nur das geringste Interesse an einem, der singt, um nicht zu verrecken,
als wäre die Literatur die wichtigste aller Künste
und als fragte der Caesar persönlich, bevor er zu Bett geht, noch rasch seinen Referenten: Was Neues von Naso?"

Weltliterarische Gegenstimmen, präzise Sprache, hier und da ein Funken bitterer Humor, mehr kann Stepanova gegen Verstummen, Elend und Kälte nicht aufbieten. Glaubt sie selbst noch an die Literatur? Die Inhalte ihrer Verse bezweifeln es, und doch spricht ihr Buch, allein schon deshalb, weil es uns vorliegt, eine andere Sprache:

"Ich bin traurig, alt und allein; ich singe
nur für mich selbst. Nebelfetzen
hängen im Dämmer. Es wirbelt der Schnee,
es kreiselt der Wind. Mein Weinglas
ist leer. Ausgetrunken die Flasche.
Das Feuer im Herd ist erloschen.
Wer spricht, tut es flüsternd.
Wie nutzlos, denke ich, sind diese Buchstaben."