Buchcover: "In einer dunkelblauen Stunde" von Peter Stamm

"In einer dunkelblauen Stunde" von Peter Stamm

Stand: 03.02.2023, 12:00 Uhr

Wie nah kann man einem fremden Menschen kommen? Der Erfolgsschriftsteller Peter Stamm erzählt von einer Dokumentarfilmerin und einem Schriftsteller – und schreibt sich auf verspielte Weise selbst in seinen Roman ein. Eine Rezension von Holger Heimann.

Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde
S. Fischer Verlag, 2023.
354 Seiten, 24 Euro.

"In einer dunkelblauen Stunde" von Peter Stamm

Lesestoff – neue Bücher 03.02.2023 05:19 Min. Verfügbar bis 03.02.2024 WDR Online Von Holger Heimann


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Während der Schriftsteller Richard Wechsler durch Paris geht, ist ihm die Kamera dicht auf den Fersen. Der Friedhof Montparnasse, der Jardin du Luxembourg, die Seine kommen so ins Bild. Aber was wird über den Autor enthüllt? Mit dem Konzept des Films haben die Aufnahmen nicht viel zu tun.

Wechsler soll von seinem Leben und seinem Schreiben erzählen, und er soll das Filmteam an der Entstehung eines neuen Romans teilhaben lassen. Doch er sperrt sich dagegen, zu viel von sich preiszugeben. Er hält es mit dem Schriftsteller Fernando Pessoa:

"Wenn ihr nach meinem Tode meine Biographie schreiben wollt, so ist nichts leichter als das. Sie hat nur zwei Daten – Geburt und Todestag. Alle Tage dazwischen gehören mir."

 

Als der Dreh in Wechslers Schweizer Heimatdorf fortgesetzt werden soll, wartet die Filmemacherin Andrea vergeblich. Wechsler, mit dem sich Peter Stamm einen Doppelgänger ersonnen hat, kommt nicht, und er lässt nichts von sich hören.

Andrea, aus deren Perspektive erzählt wird, nutzt die Wartezeit, um in dem Ort zu recherchieren. Es gelingt ihr, Wechslers Jugendliebe Judith ausfindig zu machen, die als Pfarrerin im Dorf lebt.

"Alles hat sie mir nicht erzählt. Man kann nie alles erzählen. Die Stunden und die Tage, die sie miteinander verbracht haben, die Erregung, die Liebkosungen, der Sex. Die Begegnungen und die Abschiede, die Freude und die Verzweiflung. Eine Möglichkeit? Eine Version der Geschichte? Und was wäre Wechslers Version? Was wäre meine Version? Unser Film soll die Wahrheit zeigen, aber langsam fange ich an zu zweifeln, dass es diese Wahrheit überhaupt gibt. Und selbst das Wenige, das ich jetzt von der Wahrheit weiß, kann ich nicht zeigen. Das sind die Geschichten, die man sich in der Dunkelheit erzählt, wenn man nur zu zweit ist oder allein. Im Licht lösen sie sich auf."

Das Filmprojekt ist nicht mehr zu retten. Der schwer kranke Schriftsteller hat das Interesse an dem Film verloren, von dem er anfänglich gehofft hatte, etwas über sich selbst zu erfahren. Von Wechslers Tod liest Andrea aus der Zeitung. Es ist der Moment, wo der Roman zu einem Buch wird, das verschiedene Möglichkeitsräume erkundet und von Wechsler wegführt hin zur Ich-Erzählerin. Andrea, die das Filmen aufgegeben und stattdessen einen langweiligen Bürojob angenommen hat, spinnt den Film im Kopf weiter und phantasiert zugleich von einer Liebesbeziehung zu Wechsler, denn ihr eigenes Liebesleben liegt brach.

"Obwohl wir nur eine Viertelstunde gegangen sind, ist Wechsler erschöpft. Er will sich ein wenig hinlegen, danach wird er mir den Ort zeigen. Er liegt in Unterwäsche und Strümpfen auf dem Bett. Ich ziehe mich aus und lege mich zu ihm. Es ist schön mit ihm, langsam, unaufgeregt und doch intensiv. Es erregt mich, dass er mich immer noch siezt, das verleiht dem Moment eine seltsame Würde und Ernsthaftigkeit. Er schaut mich die ganze Zeit an, und ich sehe wieder das Blaue in ihm, das Quecksilbrige, das nicht zu fassen ist."

Peter Stamm inszeniert ein ausgeklügeltes Spiel. Er fragt nach dem Verhältnis von Bild und Wirklichkeit und danach, wie nah man einem fremden Menschen kommen kann. Stamm selbst ist während der Arbeit an seinem Roman von einem Filmteam begleitet worden. Sein Roman erzählt eben von einer solchen Konstellation und rückt dabei das Verhältnis der Menschen vor und hinter der Kamera in den Blick.

Indem Andrea den Film fortspinnt, verlässt sie die Position der Dokumentarfilmerin und wird zur Erfinderin von Geschichten. Sie nähert sich mithin Stamms ureigenem Metier an, der Fiktion. Wechsler hatte sich etwas Ähnliches erhofft.

"Er dachte, aus dem Scheitern könnte etwas Neues entstehen, etwas viel Spannenderes, ein Film, in dem es nicht mehr nur um ihn gehen würde, sondern ... um das Leben und das Schreiben, das Filmemachen, den Menschen an sich, um die ganze Welt ... Er hatte seine eigenen Vorstellungen, das Biographische hat ihn nie interessiert."

"In einer dunkelblauen Stunde" ist vordergründig ein Roman über ein Filmprojekt, tatsächlich ist es ein Buch über die Kunst und das Leben – und kommt damit Richard Wechslers Filmidee sehr nah. Womöglich hat Peter Stamm in keinem anderen Roman so viel von sich enthüllt und zugleich kunstvoll versteckt wie in diesem.