
"Unberechenbar" von Dana Spiotta
Stand: 27.01.2023, 12:00 Uhr
Eine Frau in der Krise: Mit Anfang 50 verlässt sie Mann und Tochter, weil sie sich unsterblich in ein altes Haus verliebt hat. Aber auch dort lässt sich der Traum vom selbstbestimmten Leben nicht einfach erfüllen. Immerhin ist der Sex mit dem Ehemann noch erfreulich. Eine Rezension von Manuela Reichart.
Dana Spiotta: Unberechenbar
Aus dem Amerikanischen von Andrea O’Brien.
Kjona Verlag, München 2023.
352 Seiten, 25 Euro.
"Dass sie im mittleren Alter eine Faszination für junge, hyperfitte Männer entwickelt hatte, konnte sie sich selbst nicht erklären. Es war nichts Sexuelles, überhaupt nicht, eher im Gegenteil. Sie musste sie einfach begaffen, in ihrem unerschütterlichen Narzissmus."
Die Frau ist Anfang 50 und geht plötzlich obsessiv ins Fitness-Studio, wo ihr die selbstverliebten jungen Männer über den Weg laufen. Aber das ist nicht die einzige Veränderung in ihrem Leben. Sie verliebt sich in ein altes verwahrlostes Haus, das in einem heruntergekommenen Viertel ihrer Stadt liegt, in Syracuse im Staat New York. Sie weiß sofort, dass sie darin wohnen, endlich ihrem geordneten Vorortleben entfliehen will.
"Sams Entscheidung, ihren Mann zu verlassen – oder vielmehr das Verlassen selbst – wurde in jenem Moment angestoßen, als sie ein Angebot für das Haus abgab. Es war ein Sonntag. Sam hatte bereits seit fünf Uhr wachgelegen und nicht mehr einschlafen können. Sie schrieb dieses unnötig frühe Erwachen den herannahenden Wechseljahren zu."
Männer in dieser Lage, die man dann nicht Wechseljahre, sondern Midlife Crisis nennt, legen sich gerne eine neue, vor allem jüngere Frau zu und versuchen auf diese Weise, dem Alter und den eingefahrenen Lebensabläufen zu entfliehen. Die Heldin in diesem Roman braucht keinen neuen Mann im Bett, sie will nur, dass ihr Bett woanders steht und - dass sie es nicht mehr mit dem Ehemann teilen muss. Sie kauft jedenfalls den lange schon leerstehenden Bungalow. Keine vernünftige Entscheidung. Aber eine die sie – jedenfalls für eine Weile – glücklich macht.
"Am Nachmittag, als die den unzähligen Flächen im Haus zu Leibe rückte, spürte Sam förmlich, wie sich ihre Liebe beim Putzen noch weiter auswuchs, wie sie sich vertiefte (falls das überhaupt möglich war). Das dunkle Eichenholz von Parkett, Kaminsims und Balken, mit Öl eingerieben und poliert, erstrahlte in einem neuen Glanz."
Eine Frau bricht mit ihrem Leben, sie will neu anfangen, anders sein als die anderen Vorstadtfrauen in ihren geschmackvollen Röcken und Pullovern. Sie probiert Frauengruppen aus, in denen nach dem schockierenden Wahlsieg von Donald Trump über politische Aktionen geredet wird, nimmt teil an verschiedenen Chatgruppen, wird zur Anhängerin einer selbsternannten dubiosen Führerin.
Die amerikanische Autorin erzählt die ungewöhnliche Geschichte einer Frau, die plötzlich unberechenbar wird, aus zwei Perspektiven. Die der Mutter und die der Tochter, die ihrerseits gerade ihre erste Affäre mit einem eher undurchsichtigen älteren Mann erlebt.
Dieses Wechselspiel der Perspektiven macht diesen Roman über eine Frau, die die Kontrolle verlieren, die eine neue Herausforderung annehmen will, besonders spannend, denn erscheint die Selbstwahrnehmung der einen mutig und ungewöhnlich, macht der Blick der Tochter sie weit weniger sympathisch. Aber wo steht auch geschrieben, dass mittelalte Frauen besonders nett sein müssen. Diese literarische Heldin kämpft jedenfalls auf ungewöhnliche und durchaus schroffe Weise um eine neue Existenz. Dass ihr Mann zwar nicht versteht, warum sie das alles tut, sie aber offensichtlich weiter liebt und begehrt – und finanziell großzügig unterstützt -, macht diese Geschichte eines Aufbegehrens angenehm klischeefrei.
Man folgt gebannt Mutter und Tochter und staunt mit ihnen über die Absurditäten und die unberechenbaren Winkelzüge des Schicksals. Trauer und Komik liegen da stets nah beieinander. Und nach einem Unglück, dass sie hinterrücks heimsucht, wird sie plötzlich ruhig und - nimmt sich selber nicht mehr so wichtig.
"Sam schlief neun Stunden durch. Am Morgen, als ihr Bewusstsein mit dem Sonnenlicht hereinströmte, hatte sie eine Vision, unfreiwillig, aber nicht unerwünscht: Das Ende der Dinge, die Zeit jetzt und die in der Zukunft, die Welt ohne sie."