
"Nicht wirklich" von Jens Sparschuh
Stand: 14.03.2023, 12:00 Uhr
Ohne es zu ahnen, leben wir alle ständig im Modus des 'Als ob‘: Mit dieser Philosophie versucht sich bei Jens Sparschuh ein skurriler Privatdozent durchs Leben wie durch seine Unikarriere zu lavrieren – und verliert sich immer mehr in seinen Erinnerungen. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.
Jens Sparschuh: Nicht wirklich
Kiepenheuer & Witsch, 2023.
224 Seiten, 22 Euro.
Wie wahrscheinlich ist es, die Unterwäschekollektion seiner Partnerin noch vor dieser selbst kennenzulernen? Nicht allzu sehr, sollte man meinen. Doch im neuen Roman von Jens Sparschuh soll genau das dem Ich-Erzähler passiert sein. Schon vor einigen Jahren, auf einer Reise nach St. Petersburg, aufgrund einer Kofferverwechslung. Wie uns dieser Dr. Anton Lichtenau auftischt, habe er damals im Hotelzimmer in einer Mischung aus Überraschung und Überwältigung für einen Moment sogar sein Gesicht in das zart nach Rosen duftende fremde Durcheinander versenkt. Und zwei Nächte später sei es dann zwischen ihm, dem Philosophiedozenten aus Berlin, und Isabell, der frechen Lektorin aus Hamburg, nach reichlichem Alkoholgenuss zum ersten Sex gekommen. Allerdings nur nach seiner, nicht nach ihrer Erinnerung – was aber gar keine Rolle spielt, wie der Erzähler betont:
"Die Augen geschlossen, sah ich alles ganz deutlich vor mir: worauf es ankommt? Sich genau, in allen Einzelheiten, an das zu erinnern, was man nie erlebt hat."
Wer sich an Dinge erinnert, die er nie erlebt hat, lebt, wenn nicht im Wahn, dann zumindest in der Fantasie. Oder, literarisch gesprochen, in der Fiktion. Man könnte auch sagen: im 'Als ob'. Da passt es gut, dass Sparschuhs Protagonist ein Experte für das Werk von Hans Vaihinger ist. Dieser Kantianer hat vor über hundert Jahren eine voluminöse "Philosophie des 'Als ob'" vorgelegt, die heute kaum noch jemand kennt. Was schade ist, denn Vaihinger konnte damals zeigen, wie sehr wir im Leben ebenso wie in Religion oder Wissenschaft ständig von erfundenen Hilfsbegriffen profitieren wie "Gott", "Liebe" oder "Unendlichkeit". Und rechtfertigen, so Vaihinger, können sich diese Begriffe letztlich nur durch eines: ob sie uns nützlich sind.
Ironischerweise ist es nun gerade der Nutzwert der Philosophie, der heutzutage von den Vertretern eines marktgängigen Wirklichkeitssinns in Frage gestellt wird. So auch an der fiktiven Berliner "Hochschule für Kulturwissenschaften", wo Sparschuhs Ich-Erzähler als Privatdozent Philosophie lehrt, in Vertretung seines erkrankten Mentors Breitenbach. Und zwar wohl zum letzten Mal, denn die Abschaffung dieses "Orchideenfachs" steht zur Debatte; auch hat Anton Lichtenau noch immer kein Lehrbuch vorgelegt, das seine Festanstellung rechtfertigen würde.
"'Haben Sie denn wenigstens schon einen Titel für Ihr Buch, also etwas, womit ich ein bisschen hausieren gehen kann?'
'Nicht wirklich.'
Breitenbach schloss die Augen, leise stöhnend legte er den Kopf in den Nacken, lange schwieg er. Ich wollte schon erklären, wieso ich noch nicht weiter …
'Toller Titel, Anton, wirklich. Eine bessere zeitgenössische Übersetzung von 'als ob‘ gibt es ja gar nicht. – Nicht wirklich', wiederholte er noch einmal gedankenverloren."
Auf seiner Reise nach St. Petersburg ersteht der Ich-Erzähler eine Matrjoschka. In der russischen Schachtelpuppe ließe sich durchaus eine Metapher für die Form von Sparschuhs philosophischem Roman sehen. Denn dieser schreitet im Plauderton immer weiter in Lichtenaus Vergangenheit zurück: Erinnerungen in Erinnerungen in Erinnerungen also – bis zu seiner Zeit als Doktorand in der späten DDR. Nur um am Ende wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren: seiner womöglich letzten Vorlesung. Doch wie zuverlässig sind diese Erinnerungen überhaupt? Das bleibt so offen wie der Schluss dieses zwar unterhaltsamen und streckenweise amüsanten, letztlich aber doch unbefriedigenden Romans.
Warum unbefriedigend? Weil seine Themen – die wertvolle Kraft von Fiktionen, aber auch das mit ihnen verbundene Aushalten von Widersprüchen – gerade in Zeiten von algorithmengesteuerter Effizienz, Fake News und identitätspolitischen Grabenkämpfen eminent wichtig sind. Sparschuhs Roman aber plätschert über weite Strecken so nett und harmlos dahin wie das Frühstücksgeplänkel zwischen dem Ich-Erzähler und seiner späteren Mitbewohnerin Isabell. Umso interessanter ist der Roman dagegen aus biografischer Perspektive: Noch zu DDR-Zeiten hätte sein Protagonist um ein Haar fünf Jahre lang im damaligen Leningrad studiert; im Roman fragt sich der brotlose Privatdozent im Rückblick, wie sein Leben wohl dann verlaufen wäre. Tatsächlich in Leningrad studiert hat dagegen Jens Sparschuh. Der heute 67-Jährige beschäftigte sich dort, wie man nicht zuletzt aus seinem biografischen Roman "Schwarze Dame" weiß, mit Logik und Erkenntnistheorie, um schließlich ein preisgekrönter Schriftsteller zu werden. Wie unwahrscheinlich ist das denn!