
"Überall Verwüstung. Abends Kino" von Ré Soupault
Stand: 27.06.2022, 07:00 Uhr
Die Modemacherin und Fotografin Ré Soupault fuhr 1951 mit dem Mofa durch das zerstörte Süddeutschland und schrieb dabei Tagebuch. Das erschütternde, aber auch faszinierende Stück deutsche Nachkriegsgeschichte ist jetzt im Wunderhorn Verlag erschienen. Eine Rezension von Tobias Eisermann.
Ré Soupault: Überall Verwüstung - abends Kino. Reisetagebuch
Wunderhorn, 2022.
128 Seiten, 22 Euro.
Süddeutschland, 1951
"Dieses Fahrrad verändert mein Leben", schreibt Ré Soupault 1951 in ihr Tagebuch. Sie hat sich an der Côte d’Azur ein Vélosolex, ein Fahrrad mit Hilfsmotor, gekauft und bricht dann von Basel aus im Spätsommer 1951 auf, um durch das zerstörte Süddeutschland zu reisen.
Sie schreibt derweil ein Reisetagebuch, klappert es in enggesetzten Zeilen mit ihrer Olivetti-Reiseschreibmaschine auf einen Stoß Papier. Manfred Metzner hat dieses spannende Stück hautnaher Zeitgeschichte jetzt im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn ediert. Soupault schildert die unguten Gefühle, die die Deutschen gegen die Besatzungsmächte hegen. Die unglaubliche Armut und die Verbitterung der Menschen erschüttern sie.
Schöne und begeisternde Eindrücke
Von Anfang an gibt es aber auch viele schöne und begeisternde Eindrücke auf dieser Reise. Früh taucht die Vision einer Landschaft auf, die Ré Soupault an die Wolkenkratzersilhouette von Manhattan erinnert. Auf einer Passhöhe auf der Fahrt nach Trier kommt es zu dem Besuch eines exotischen Botanischen Gartens.
"Mich überraschte der Eindruck eines mir verschlossenen Geheimnisses, des Geheimnisses der Pflanzen. Was ist anders in dem Leben dieser Pflanzen, die aus einem so fernen Lande stammen, als bei den einheimischen Gewächsen. Es müssen gewaltige Unterschiede bestehen, denn ihr Äußeres ist so verschieden von den europäischen Arten. Manch ein Zweig schien den Holzschnitten japanischer Meister entstiegen. Solch ein Garten ist eine mystische Welt."
Dann gibt es immer Ärger mit dem Mofa. Sie wird beim Kauf von Öl und Benzin betrogen. Muss Wucherpreise zahlen. Zwischenzeitlich geht das Gefährt kaputt. Sie findet keine Werkstatt und muss es mit auf den Zug nehmen. Die Autorin trägt‘s mit Fassung.
Im Alltagsleben bei Verwandten im Wittlich an der Mosel, wo sie eine Weile bleibt, wieder der unterschwellige Hass zwischen den Deutschen und den Franzosen, die dort stationiert sind.
"Im Nachbarhaus wohnt die Familie eines französischen Funktionärs oder vielleicht ist es ein Unteroffizier. Die Frau, die ich gestern vorübergehen sah, ist wirklich das Vulgärste, was man sich denken kann. Ihre Kinder haben alle ein Fahrrad und machen die Straße mit ihren Rennen unsicher. Die Frau selbst ist reich gekleidet, was eher ihre Vulgärität noch unterstreicht. Es gilt als verächtlich, für die Franzosen zu arbeiten. Wer sich achtet, tut es nicht. Bei der ärmeren Bevölkerung wird der Widerstand gegen die Franzosen zu einem nicht einzudämmenden Hass. Über Trennung und Ablehnung führt kein Weg zur Verständigung oder auch nur zur Lösung der Probleme."
Arbeit als Übersetzerin
Soupault arbeitet während ihres Aufenthalts in Wittlich. Sie beginnt eine neue Übersetzung. Gleichzeitig nimmt sie Lateinunterricht bei einem der Verwandten. In Stuttgart, wo sie mit dem Zug hinfährt, nimmt sie als Übersetzerin eines historischen Dramas von Romain Rolland an der Vorbesprechung für die Bearbeitung als Hörspiel teil und lernt die bekannte Schauspielerin Edith Heerdegen kennen.
"Ich aß zu Mittag in einem Gartenlokal und wanderte dann bis in die Jägerstrasse zu dem Bürohaus, in dem sich auch der Verlag befindet. Furchtbar, ganz furchtbar sind die Zerstörungen. In dieser ganzen Straße ist es fast das einzige wieder aufgebaute Haus. Und doch herrscht in dieser Stadt ein hektisches Treiben. Wie wild durcheinander geschleuderte Ameisen, so hetzen und jagen die Menschen, ohne dass man den Eindruck hat, dass sie wirklich mit den Verwüstungen fertig werden können. Die ganze Gegend dort ist eine einzige Ruine. Es ist grauenhaft. Später ging ich weiter über die Höhen der Stadt. Überall Verwüstung. Abends Kino."
Kein Vertrauen in die Zukunft
Das vorliegende Buch ist das sensible Dokument einer Übergangsphase im Leben der Autorin, die mit der Trennung von ihrem Mann und einer ungewissen persönlichen Zukunft hadert. Gleichzeitig sieht sie sich konfrontiert mit dem Elend der Menschen in dieser Zeit, wo man den Bruch in der Vita fast jedes Einzelnen geradezu körperlich nachempfinden kann.
Ré Soupault ist eine aufmerksame Beobachterin. Sie lauscht Gesprächen und kommentiert sie mit feinsinnigem Urteil. Immer wieder zeigt sich in ihren Beschreibungen der Mangel an Glauben und Vertrauen in die Zukunft bei den Menschen.
Auch wenn sich aufdringlicher Luxus zeigt, steckt ihrer Meinung nach der Zweifel dahinter, ob bald noch Zeit sei, für das Geld etwas zu kaufen. Vor allem aber bemerkt sie immer wieder eine erschreckende Armut.
"Die Skala des Elends ist groß in Deutschland. Sie beginnt bei der allgemeinen Geldnot und endet beim Hunger und einem Leben in den Elendsbaracken mit 15 Personen in einer Kabine."