
"So weit der Fluss uns trägt" von Shelley Read
Stand: 19.07.2023, 18:32 Uhr
Das ungewöhnliche Romandebüt von Shelley Read, derzeit in 30 Sprachen übersetzt. Die Naturschilderungen sind dicht, eindringlich und hingebungsvoll. Beim Hören lockt die Geschichte uns selbst raus: in den Garten, in einen nahen Wald oder an einen Fluss. Eine Rezension von Oliver Cech.
Shelley Read: So weit der Fluss uns trägt
Ungekürzte Lesung mit Melika Foroutan
Der Hörverlag, 2 MP3-CDs, ca. 12h.
Eine untergegangene Stadt
"Stell dir vor, was wabernd auf dem Grund eines Sees liegt. Stell dir vor, wie Stücke von Seegras geschmeidig tanzen, wie unbeobachtete Frauen. Unsere Farm liegt dort, im Schlamm – und ihre Überreste sind nicht mehr von gekenterten Booten zu unterscheiden."
Eine untergegangene Stadt, verborgen von den Wassern eines Stausees. Diese Stadt im See gibt es wirklich: Iola im US-Bundesstaat Colorado; und der Roman von Shelley Read erzählt die Geschichte des Untergangs dieser Stadt aus einer persönlichen Perspektive. Die Hauptfigur Victoria ist aufgewachsen auf einer Pfirsichfarm in Iola – am Gunnison River, dessen Wasser nun die Orte ihrer Kindheit umspülen.
"Schlanke Forellen durchstreifen die Reste meines Kinderzimmers, und das Wohnzimmer, an dem am Sonntag die ganze Familie beisammen saß."
"Ein Roman wie eine Naturgewalt"
"So weit der Fluss uns trägt" heißt der Debüt-Roman von Shelley Read. Ihre Familie lebt seit fünf Generationen in Colorado, in den Elk Mountains, gar nicht weit vom Geschehen der Erzählung. "Ein Roman wie eine Naturgewalt", heißt es über dieses Buch in einer US-Kritik. Das führt ein wenig in die Irre. Denn die Gewalt in diesem Roman geht vom Menschen aus; vom Menschen, der sich die Natur untertan machen will – und dabei selber Schaden nimmt.
"Die Landschaften unserer Jugend erschaffen uns, und wir tragen sie in uns. Alles, was sie uns gegeben und genommen haben, ist in der Person eingeschrieben, zu der wir herangewachsen sind."
Eine Entdeckung, die sie für immer verändern wird
…sinniert Victoria am Ufer des Stausees, der die Landschaften ihrer Kindheit begraben hat. Die Orte der Erinnerung: an ihre Familie, an den frühen Verlust ihrer Mutter, an die Brutalität ihres Bruders; vor allem die Erinnerung an ihre Liebe zu Will, einem Streuner, der auf den Farmen Saisonarbeit findet. Mit 17 wird Victoria schwanger von Will. Sie flieht in die Einsamkeit der Berge, um ihr Kind heimlich zur Welt zu bringen. Allein der Härte der Natur ausgesetzt, kommt die junge Frau dort fast ums Leben. Doch dann macht sie eine Entdeckung, die sie für immer verändern wird.
"Als ich in meiner neuen Heimat im Wald in den Schlaf hinüberdämmerte, eingewoben in einen riesigen, geheimnisvollen Teppich, war das einzige Geräusch, dem ich lauschte, der stetige Puls dieser riesigen Ansammlung schlagender Herzen. Das Einatmen und Ausatmen von Millionen von Leben, die neben meinem geführt wurden. Da wurde mir klar, dass ich noch nie in meinem Leben so wenig Angst gehabt hatte."
Alles Lebendige in der Natur mit einander verbunden
Victoria entdeckt, dass alles Lebendige in der Natur mit einander verbunden ist und sich gegenseitig trägt. Und sie selbst kann ein Teil dieses lebendigen Netzwerks sein. Shelleys Schilderung des einsamen Waldlebens steht in der Tradition von Thoreaus Klassiker Walden; literarisch ist dies sicher die stärkste Passage des neuen Romans. Sogar der Himmel wird hier freudig neu entdeckt.
"In mondlosen Nächten starrte ich hoch zum betörenden Nebel der Milchstraße. Und da ich nie die Namen und Konstellationen der richtigen Astronomie gelernt hatte, erfand ich meine eigenen Namen für die Gruppen der glitzernden Sterne. Betende Hände. Pfirsichblüte. Schweineschwänzchen. Trompete."
Ein Roman, der uns rauslockt in die Natur
Die Naturschilderungen sind dicht, eindringlich und hingebungsvoll. Ein Roman, der uns beim Lesen oder Hören selbst rauslockt in die Natur: in den Garten, in einen nahen Wald oder an einen Fluss! Die Schwächen von "So weit der Fluss uns trägt" liegen dagegen in der Figurenzeichnung. Etwa beim ersten Auftritt des Streuners Will:
"Die Augen des Fremden waren dunkel und glänzten wie Rabenvögel. Und freundlich. Das ist meine stärkste Erinnerung an diese Augen: Freundlich vom ersten Blick bis zum letzten Starren. Da war eine Sanftheit, die aus seiner Mitte zu entspringen schien, und sich verströmte wie ein überfließender Brunnen."
Trotz bildreicher Umschreibungen bleibt die Figur vage, sie entwickelt keine Ecken und Kanten, keine sinnliche Präsenz. Das gilt auch für die Farmerfamilie, letztlich sogar für Victoria selbst. So fließt das Geschehen des Romans oft gleichförmig dahin, ohne psychologische Verdichtung, ohne zugespitzte Momente. Der Vortrag der Schauspielerin Melika Foroutan nimmt diese Gleichförmigkeit auf und betont die Melancholie der Hauptfigur, die so viel verloren hat. Kein großes literarisches Ereignis also, wie manche US-Kritik annonciert – aber die Naturschilderungen heben diesen Roman doch aus den Neuerscheinungen heraus.