Buchcover: "Nadine" von Katrin Seddig

"Nadine" von Katrin Seddig

Stand: 07.06.2023, 12:00 Uhr

"Nadine" ist unangepasst, unsentimental und immer überraschend. Auch in der schlimmsten Tragödie erkennt sie noch die Absurdität. So gelingt Katrin Seddig das komplexe Psychogramm einer widerspenstigen Frau. Eine Rezension von Nicole Strecker.

Katrin Seddig: Nadine
Rowohlt Berlin, 2023.
304 Seiten, 24 Euro.

"Nadine" von Katrin Seddig

Lesestoff – neue Bücher 07.06.2023 05:05 Min. Verfügbar bis 06.06.2024 WDR Online Von Nicole Strecker


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Zufrieden ist Nadine auch schon vor der Katastrophe nicht. Sie liegt mit ihrem Mann Frank im Garten und ärgert sich gerade über ihre unattraktiven Beine – die stämmigen Fesseln, das Muster aus bläulichen Adern –, da klingelt es. Frank öffnet die Tür. Als er zu ihr zurück kommt, ist er nicht mehr derselbe.

"'Es war die Polizei.' Sie will es nicht wissen, aber es bleibt ihr nichts anderes übrig. 'Mizzi ist tot. Sie ist unter den Zug gekommen.' Wie ein Kind steht er da, wie ein Kind, denkt sie. So ein hässliches altes Gesicht zu seiner ganzen Kindhaftigkeit. 'Wie kommt sie denn unter den Zug?' 'Sie ist selbst...' Ein rötliches Blatt taumelt über seinem Kopf. Sie sieht, wie es sich bewegt, hin und her, und schließlich – ist das zu glauben? – auf seinem Kopf liegen bleibt."

Grausame Absurdität. So ist es immer im Leben von Nadine. Selbst in der schrecklichsten Tragödie wird ihr noch die Lächerlichkeit ihres Daseins vorgeführt. Mit diesem Schock, dem Suizid von Nadines Tochter, beginnt Katrin Seddigs Porträt einer Frau, die sich längst schon damit abgefunden hat, dass für sie kein Glück in diesem Leben vorgesehen ist. Schon als Kind scheint Nadine die Welt der anderen immer nur zu stören. Sie ist zu laut, zu groß, zu schwer, zu plump.

"'Nadine, stell dich ab!', sagte ihr Vater immer und immer wieder, denn sie hörte einfach nicht auf mit dem Geplapper. Ohne Ende redete sie, wenn man sie ließ. Sie redete und hörte nicht auf. Dabei auch noch so laut. Ein schrecklich lautes Kind war das. Konnte sich gar nicht zurücknehmen."

So nörgelt ihr Vater an ihr herum. Er meint es eigentlich gut mit ihr, ist aber als alleinerziehender Vater völlig überfordert und hat zudem einfach ein viel zu konservatives Frauenbild – wie andere auch in diesem Kleinstadt-Milieu.

Mit kühler Präzision teilt Autorin Katrin Seddig das Leben von Nadine in kleine Segmente auf: In der Erzählgegenwart erfahren wir von ihrem Alltag nach dem Freitod ihrer Tochter. Dazwischen setzt Seddig kurze Kapitel, die in verschiedene Vergangenheiten springen. So skizziert sie die Genese einer dysfunktionalen Familie. Schon die Eltern passen nicht wirklich zueinander. Die Mutter verlässt die Familie, als Nadine noch ein Kind ist. Und Nadine hat früh ein Problem: Impulskontrolle. Als Teenager kann sie ihre Lust auf Essen und Sex kaum beherrschen. Nach dem Tod ihrer Tochter ist es ihr Zorn. Ab jetzt schlägt Nadine zu – etwa ihren pflegebedürftigen Vater:

"Seine stoppelige, schlaffe Wange trägt den roten Abdruck ihrer Ohrfeige. (…) Es tut ihr überhaupt nicht leid. Es tut mir gar nicht leid, registriert sie ihre eigenen Gefühle. Nur, dass man es nicht tun sollte, denkt sie, aber das ist ohne Gefühle, das ist nur so ein leeres Gebet. Was die Leute so reden, aber es hat ja keine Bedeutung."

Sehr eindrücklich beschreibt Katrin Seddig die Versteinerung ihrer Heldin in der Trauer und den sich plötzlich Bahn brechenden Wutschmerz. Dabei bleibt Nadine auch für die Leserinnen und Leser eine unbequeme Frau, die man sich emotional lieber auf Abstand hält.

Ihr schroffer Humor, der gnadenlose Blick, mit dem sie andere Menschen beobachtet – sie dämpfen das Mitleid mit ihr, und eben darin liegt die Stärke dieses Romans. Die psychoanalytische Herleitung von Nadines Problemen mag ein bisschen überstrapaziert sein. Doch die sperrige Heldin mit ihren Widersprüchen fasziniert.

Vor dem Hintergrund einer herzzerreißenden Tragödie entwickelt Katrin Seddig ein komplexes Psychogramm einer Frau, die grausam, verletzlich, tapfer und rachsüchtig wie eine moderne Medea ist, und vor allem: nie bloß ein Opfer. Das liest sich besonders wohltuend in einer Zeit, in der alle immerzu ihre Sensibilität ausstellen und als Opfer von der Gesellschaft Rücksichtnahme verlangen.

Katrin Seddigs Nadine dagegen erwartet nichts. Stattdessen sorgt sie für so manche unvorhergesehene Volte in der Handlung. Man sollte ihr besser nicht über den Weg trauen, dieser widerspenstigen Nadine.