Hörbuchcover: "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe" von Helga Schubert

"Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe" von Helga Schubert

Stand: 13.04.2023, 12:00 Uhr

Helga Schubert bedient die ganze Klaviatur der Gefühle. Demütig und liebevoll schreibt sie über die Pflege ihres Mannes. Ein anrührendes Hörerlebnis. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe
Ungekürzte Lesung mit Ruth Reinecke.
Argon Verlag, 2023.
1 CD, 4 h 44 min Laufzeit, 23 Euro.

"Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe" von Helga Schubert

Lesestoff – neue Bücher 13.04.2023 05:45 Min. Verfügbar bis 12.04.2024 WDR Online Von Corinne Orlowski


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Das Babyphone ist noch nicht eingeschaltet, da nimmt das Unheil schon seinen Lauf. Um sich ein Buch zu holen, will der hochbetagte, demente Mann sein Bett verlassen, setzt sich mühsam auf, überwindet den Schwindel, beugt sich vor, hebt sich in den Rollstuhl, löst die Bremsen und fährt los. Doch er hat den Auffangbeutel für den Urin vergessen, der am Blasenkatheter befestigt ist.

"Beim Losfahren riss er ihn los, die Verbindung an der Kupplung ging auseinander, in den Blasenkatheter konnten Keime eindringen, der Schlauch mit dem Urin vom Bettbeulen entleerte sich auf dem Teppich. Ich konnte gar nicht aufhören, vor Verzweiflung zu jammern. 'Ich war das nicht', sagte er, 'ich bin so schnell vom Bett weggefahren, weil die Haustür offen war und ich nach einem Einbrecher sehen wollte, weißt du.'"

Helga Schubert pflegt ihren Mann aufopferungsvoll. Vor 66 Jahren haben sie sich kennengelernt, da war sie seine Studentin am Berliner Psychologischen Institut. Mittlerweile ist er 95 Jahre alt, sie 82. Die Bewunderung für ihren Mann, den Maler und Psychologieprofessor Johannes Helm, hat in all den Jahren nicht nachgelassen. Im Buch heißt er Derden, ein Name, den es nicht gibt – hat sie gegoogelt. Er steht für "der, den ich so liebe".

"Wenn ich abends alles Notwendige an ihm gerichtet und für die Nacht vorbereitet hatte, auf seiner Bettkante saß, nur seine Nachttischlampe an war, wir unsere Hände ineinander verschränkten, seine kalten in meine warmen, begann unsere schönste Tageszeit: Er sagte, dass ich seine Mutter, Schwester, sein großer Bruder, die alle tot sind, sein Mann und seine Frau sei. Alles"

Wie erhält man dem Anderen die Würde, wenn er pflegebedürftig ist? In "Der heutige Tag" begegnet man einer liebevollen Frau, die früher aber durchaus auch harsch sein konnte. Sie erzählt, wie sie die Menschen in der DDR stets von ihrer Meinung überzeugen wollte. Ihre Prägnanz und Willensstärke hat sie über die Jahre nicht verloren. Doch das Alter hat sie demütig, weicher werden lassen. Das gibt ihr Hoffnung – und dem Leser wie Hörer des Werks so rührende wie anmutige Momente. Wie den, wenn die beiden Weihnachten feiern, obwohl es bereits der 18. Februar ist.

"'Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant', sagt Deren zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. 'Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann.' Ich schlage sein Deckbett zurück, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr."

Sie trauert, natürlich. Da sind die Gefühle der Enttäuschung und Bitterkeit, des Entsetzens, die Sorgen, Mitleid, ein schlechtes Gewissen. Doch die werden gleich abgelöst von Zuständen des Glücks, in der sich die Zeit dehnt, Liebe, Hoffnung, Wärme und die tröstenden Momente, ohne Angst vor dem Morgen.

Helga Schubert bedient ihrem Buch beinahe die gesamte Klaviatur der Gefühle und bezeugt so, dass das Leben, ganz einfach, ein Wunder ist, auch wegen der Umstände. Für sie ein Wunder Gottes. Der Glaube hat einen großen Stellenwert in Schuberts Leben. So erklärt sich auch der Untertitel "Stundenbuch". Das bezeichnet eigentlich ein katholisches Gebets- und Andachtsbuch. Bei Schubert aber wird eher die schmerzfreie Gegenwelt des Jenseits angebetet.

"Auch jetzt als alte Frau, dachte ich plötzlich, habe ich ja noch richtige Lebensaufgaben zu lösen: Es geht nämlich um das Loslassen, das Annehmen, es geht um das Friedenschließen, das Einverstandenen, um das nicht dauernd den anderen, sich und das Leben Ändernwollen."

"Der heutige Tag" ist eine unsentimentale Rückschau auf ein gemeinsames Leben, nicht chronologisch, sondern wie die Erinnerungen und Gefühle eben kommen: in Wellen. Schubert ist auch nicht einsam oder verbittert. Abends surft im Internet. So kann sie mit der Welt verbunden bleiben, trotz der Abgeschiedenheit in Mecklenburg. Hier drückt niemand auf die Tränendrüse oder will Mitleid. Und das nimmt die Schauspielerin Ruth Reinecke in ihrer zarten und zugewandten Lesung wunderbar auf. In ihrer Klarheit ist sie eine Idealbesetzung.

Mit der Zeit wird der Text poetischer. Albträume nehmen zu. Ob es an der Todesnähe liegt?  Die "Heilige Zone", die Menschen hellsichtig werden lässt, aber auch unheimlich. Aber Schubert will sich nicht ums Morgen sorgen. Es zählt eben nur der heutige Tag.