Buchcover: "Samson und Nadjeschda" von Andrej Kurkow

"Samson und Nadjeschda" von Andrej Kurkow

Stand: 24.07.2022, 19:06 Uhr

Ein abgeschnittenes Ohr, das noch sehr gut funktioniert. Ein blutjunger Polizist, verliebt. Revolution und Bürgerkrieg als dramatischer Hintergrund: Andrej Kurkow schreibt jetzt historische Kriminalromane!
Eine Rezension von Uli Hufen

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing Diogenes, 368 Seiten, 24 Euro

"Samson und Nadjeschda" von Andrej Kurkow

WDR 5 Scala - Bücher 02.08.2022 07:14 Min. Verfügbar bis 02.08.2023 WDR 5


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"Samson und Nadjeschda" beginnt mit einem metaphorischen Erdbeben

Ein Kino-Blockbuster muss mit einem Erdbeben anfangen und sich dann langsam steigern. Soll einst der Hollywood-Mogul Samuel Goldwyn verlangt haben. Gut erfunden ist der Satz in jedem Fall. Andrej Kurkow hält sich daran im ersten Band seiner neuen Serie historischer Kriminalromane. Zum Teil. "Samson und Nadjeschda" beginnt mit einem Erdbeben. Metaphorisch gesprochen:

"Das Geräusch des Säbels, der auf den Kopf seines Vaters krachte, betäubte Samson. Aus dem Augenwinkel sah er das Aufblitzen einer funkelnden Klinge und trat in eine Pfütze. Der linke Arm seines bereits toten Vaters stieß ihn zur Seite, und so traf der nächste Hieb nicht Samsons rothaarigen Kopf, aber auch nicht daneben – er schlug ihm das rechte Ohr ab, Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es festumschlossen in der Faust."

Kiew, 11. Mai 1919 - Es herrscht Bürgerkrieg

Kiew, 11. Mai 1919. Seit die Revolution 1917 das russische Imperium zum Einsturz brachte, herrscht Chaos. Nationalisten und Anarchisten, kommunistische Bolschewiki, deutsche und habsburgische Interventionsarmeen und allerlei monarchistische Kräfte kämpfen um die Kontrolle über das, was heute die Ukraine ist. Essen und Heizmaterial sind knapp, nachts unbewaffnet auf die Straße zu gehen ist eine Dummheit. Die Leichen, die morgens auf den Bürgersteigen liegen, lassen daran keinen Zweifel. Wer gerade wo die Macht hat oder welches Geld gilt, das sind Fragen, die kaum zu beantworten sind. Auch für Samson, der gerade noch das Gymnasium beendet hat und nun Vollwaise ist. Die elterliche Wohnung ist sein letzter Anker in einer Welt ohne Ordnung. Aber in einer Welt ohne Ordnung ist nicht nur der Tod allgegenwärtig, sondern auch der Zufall. Als die Polizei widerrechtlich den Schreibtisch des Vaters beschlagnahmt, schreibt Samson eine Beschwerde. Und weil die Beschwerde zeigt, das Samson ein helles Köpfchen ist, sitzt er bald Genosse Najden gegenüber:

"Ich habe Ihren Rapport gelesen', bemerkte Najden nachdenklich. 'Sie schreiben gut. … Schon lange ist mir das Lesen nicht mehr so leichtgefallen, und Sie verstehen es, Gedanken exakt und detailliert auszudrücken."

Den Schreibtisch des Vaters bekommt Samson trotzdem nicht zurück. Aber Najden macht ihm ein Angebot:

"Wir müssen das Banditentum und die Anarchie auf den Straßen beenden. Wir brauchen entschlossene – dabei blickte Najden auf Samsons abgenutzten Verband – entschlossene und gebildete Leute … Wenn Sie zustimmen, wird der Tisch Ihr Arbeitstisch hier, und das ganze Zimmer wird Ihres."

Samson wird Polizist

Kurz darauf trägt Samson statt Gymnasiastenmantel und Halbschuhen eine schwarze Lederjacke, Stiefel und einen Nagant-Revolver. Er ist jetzt Polizist. Als Assistentin und potentielle romantische Verwicklung findet sich schnell die ebenso patente wie hübsche Nadjeschda ein. Gemeinsam gehen die jungen Leute den ersten Fall an: Rätselhafte Diebstähle, ein silberner Oberschenkel-Knochen, bald fallen auch Schüsse.

Kurkow wird gelesen und populäre Geschichtserzählungen sind einflussreich

Wobei: Andrej Kurkow kann als Schriftsteller vieles, aber ein rasanter Spannungsschriftsteller ist er nicht. Alles bewegt sich in behäbigem Derrick-Tempo voran. Daran ändert auch der Einsatz des abgeschlagenen Ohres als Ermittlungsinstrument nichts. Ein Grund: Der Krimi ist für Kurkow Mittel zum Zweck. Worum es Kurkow eigentlich geht, das ist das Portrait einer Epoche. So verworren die Ereignisse der Jahre 1917 bis 21 sind, so wichtig und umstritten sind sie als zentrale Episode der ukrainischen Nationswerdung. Über wenig wurde in der Ukraine in den letzten Jahrzehnten intensiver debattiert, als über die korrekte Version der eigenen Geschichte. Darum darf man gespannt sein, wie Kurkow sein Panorama in den nächsten Bänden ausbaut. Denn eins ist klar: Kurkow wird gelesen und populäre Geschichtserzählungen sind allemal einflussreicher als die Studien akademischer Historiker.

Die erste wichtige Einsicht, die Kurkow seinen Lesern mitgibt ist folgende: Die Bolschewiki, die am Ende des Bürgerkriegs die Macht in Kiew übernahmen, waren - anders als nicht nur in der Ukraine viele meinen - keine fremdländischen Kolonisatoren. Es waren zumeist Ukrainer. Ukrainer wie Samson und Nadjeschda.