Buchcover: "Hundert Jahre Blindheit" von Roman Rozina

"Hundert Jahre Blindheit" von Roman Rozina

Stand: 17.11.2023, 12:00 Uhr

Roman Rozina spiegelt in der wechselvollen Geschichte einer slowenischen Bergarbeiterfamilie die Geschichte seines Landes im 20. Jahrhundert. Erkennbares Vorbild des farbigen Gesellschaftspanoramas, das einhundert Jahre umfasst, ist der Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez. Eine Rezension von Holger Heimann.

Roman Rozina: Hundert Jahre Blindheit
Aus dem Slowenischen von Alexandra Natalie Zaleznik.
Klett-Cotta Verlag, 2023.
584 Seiten, 28 Euro.

"Hundert Jahre Blindheit" von Roman Rozina

Lesestoff – neue Bücher 17.11.2023 05:05 Min. Verfügbar bis 16.11.2024 WDR Online Von Holger Heimann


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Der Schriftsteller Roman Rozina kommt aus einer alten Bergbauregion, aus Zagorje, eine Autostunde östlich von Ljubljana. In seinem Roman "Hundert Jahre Blindheit" hat er ihr ein Denkmal gesetzt.

In den 80er Jahren wurden die Kohleminen von Zagorje geschlossen, weil sie nicht mehr profitabel waren. Der Zerfall Jugoslawiens beschleunigte schließlich den ökonomischen Kollaps einer ganzen Region. Als Fernsehreporter und Zeitungsjournalist hat Rozina diese Entwicklung intensiv begleitet.

O-Ton Rozina:
"Die Veränderungen schockierten mich. Noch mehr aber erschütterte mich die Reaktion der Menschen. Der Bergbau war wie ein Gott für diese Region, er bestimmte die Ausbildung in der Schule, den Wohnungs- und Siedlungsbau. Für viele ältere Menschen war das Ende des Bergbaus etwas Unvorstellbares, sie erlebten dies als Abschaffung ihres Gottes, wie das Sterben ihres Glaubens."

In "Hundert Jahre Blindheit" erzählt Rozina davon, wie der Bergbau das Leben in dem fiktiven Ort Podgorje lange Zeit bestimmt hat. Im Mittelpunkt steht die Familie Knap, der Rozina über mehrere Generationen und hundert Jahre folgt. Wie Gabriel García Márquez in seinem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit", der Rozina als Vorbild diente, so lässt sich auch "Hundert Jahre Blindheit" als Porträt der Heimat des Autors lesen.

Anders als García Márquez erzählt Rozina jedoch streng chronologisch und im durchgängig realistischen Stil. Die erste Jahrhunderthälfte gerät dabei farbiger als die sozialistische Periode und die Transformation der 90er Jahre.

Die Familie Knap erlebt Aufstieg und Niedergang der Kohleförderung, vor allem aber auch die großen politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Die Knaps sind jedoch zu verstrickt in ihre Zeit, um ihre Lage zu überblicken. Für den blinden Matija, den stillen Helden des Romans, erwächst daraus ein Unbehagen.

"Mich verwirren die vielen Wechsel, ständig verändert sich etwas. Für einen, der das Ganze sieht und überblickt, ist es vielleicht nicht schlimm, aber wenn man das Bild mühsam aus Bruchstücken zusammensetzen muss, bringt dich die andauernde Bewegung, das ewige Anbranden von etwas Neuem an den Rand der Verzweiflung. Ich fühle mich ganz hilflos, weil ich mir vergeblich ein Bild zu machen versuche, das den Raum irgendwie eingrenzt, mir zumindest ein wenig Gewissheit bietet, eine Marschroute. Dieser ständige Wandel legt sich wie dichter Nebel über das einmal Erkannte und verdeckt es, löscht aus, was gesichert war."

Während Matija sich abseits hält, versuchen seine Geschwister einzugreifen in die Zeitläufte. Allesamt sind sie bestimmt vom Syndrom ihrer Sippe, wie es einmal heißt, "Dinge zu regeln, Systeme zu verändern, Gerechtigkeit herzustellen". Ludvik träumt von einer kommunistischen Gesellschaft und führt die Bergarbeiter an. Frančiška, die es zur Lehrerin gebracht hat, entwickelt sich zu einer engagierten Frauenrechtlerin.

Alojzij entfremdet sich von seinen Ursprüngen und wird zu einem erfolgreichen Unternehmer, der das Glaswerk im Ort übernimmt. Rozina lässt Matijas Geschwister jedoch allesamt scheitern. Vor allem Ludvik und Alojzij treibt ihr gegensätzliches Engagement zu einem Radikalismus, der sie blind macht für Alternativen.

O-Ton Rozina:
"Matijas Geschwister sind gefangen in ihrem Denken, ihren Bestrebungen. Matija ist der einzige, dem es gelingt, sich zwischen diesen Meinungen zu bewegen, er ist den Dingen gegenüber offener als die anderen. Seine Anschauungen sind manchmal ein bisschen kindlich naiv, aber trotzdem ist er derjenige, der als einziger neue Denkwege findet, was uns allen oft schwerfällt."

Roman Rozina erzählt auch davon, wie die Geschichte zu politischen Zwecken unterschiedlich interpretiert und instrumentalisiert wird. Das geschieht in Slowenien bis heute und sorgt dafür, dass die Gesellschaft tief gespalten ist.

Der Roman, der auch als Kommentar zur Gegenwart gelesen werden kann, führt die Resultate ideologisch verordneter Blindheit eindrücklich vor. Indem Rozina verschiedene, stets einseitige Positionen unkommentiert nebeneinanderstellt, wird das, was jeweils außer Acht bleibt, um so kenntlicher.