Buchcover: "Rot und Weiß. Wanderer zwischen den Städten" von Joseph Roth

"Rot und Weiß. Wanderer zwischen den Städten" von Joseph Roth

Stand: 11.05.2022, 07:00 Uhr

Mit Joseph Roth unterwegs. 1925 erstellte der Österreicher poetisch aufgeladene Reiseberichte aus den weißen Städten der Provence und den "Bloodlands" im Osten Europas. Eine Rezension von Kurt Darsow.

Joseph Roth: Rot und Weiß. Wanderer zwischen den Städten
Ediert und mit einem Nachwort versehen von Volker Breidecker.
Die Andere Bibliothek, 2022.
Band 446, 334 Seiten, 44 Euro.

"Wanderer zwischen den Städten" von Joseph Roth

Lesestoff – neue Bücher 11.05.2022 04:35 Min. Verfügbar bis 11.05.2023 WDR Online Von Kurt Darsow


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In der Region seiner Träume

"Ja, so habe ich sie geträumt: die schimmernden Häuser, die weißen Wände, mit Sonne getüncht, die flachen schillernden Dächer aus Regenbogen, die hüpfenden Rauchfänge, die kleinen blauen Wölkchen, wie zartes Baumaterial für den blauen Himmel."

Im Auftrag der renommierten "Frankfurter Zeitung" durfte Joseph Roth 1925 endlich die Region seiner Träume besuchen. Bis dahin sei er immer nur durch sonnenschwache und nebelreiche Länder gewandert, wird dem 1894 tief im Osten der Donaumonarchie geborenen Autor in Avignon klar.

Die "weißeste aller Städt der Provence" kannte kein mystisches Halbdunkel. Ihr grelles Licht  zündete die spärlichen Wälder an und ließ die steinernen Gärten erblühen:

"Ach, ich begreife: wo die Natur so liebenswürdig ist, können die Gärten verschlossen und hart sein. Der Sonne ist es noch immer nicht klar, übersichtlich, scharf genug in diesem Land. Wie rücksichtslos kann das gepriesene Licht sein und wie gütig der gescholtene Nebel."

Ein Mann ohne Heimat

Er habe keine Heimat, hat der Sohn eines Getreidehändlers aus dem galizischen  Städtchen Brody einmal über sich gesagt; wohl fühle er sich eigentlich nur in der Fremde. Auf der Reise von Lyon über Vienne, Tournon, Avignon, Les Beaux, Nimes, Arles, Tarascon und Beauclaire nach Marseille sieht er sich in dieser Ansicht bestätigt.

Sogar für die architektonische Prachtenfaltung der kunstliebenden Päpste von Avignon kann er sich begeistern. Im Nebelreich seiner Herkunft dagegen weiß der "rote Joseph" wieder, wo er steht: auf der Seite der Getretenen und Flüchtenden:

"Meine traurigsten Erlebnisse verdanke ich meinen Wanderungen durch die 'Moldowanka', das Judenviertel in Odessa. Da geht ein schwerer Nebel herum, wie ein Schicksal, da ist der Abend ein Unheil, der aufsteigende Mond ein Hohn."

Mit Blut getränkter Boden

Wir sind in den Bloodlands des 20. Jahrhunderts, wo der Boden auch heute wieder mit Blut getränkt wird und die Flüchtlingsströme nicht abreißen wollen. Zu Roths Reisezeit waren die Vernichtungslager dort zwar noch nicht errichtet, aber sie zeichneten sich bereits ab.

Einen Schlüssel für das große Morden hat der teilnehmende Beobachter Roth dennoch nicht zu bieten. Weder religiöser Wahn noch politisches Kalkül reichen ihm zur Erklärung aus. Lieber nimmt er sich –  wie Walter Benjamin – ein Beispiel an den Geringsten unter seinen Glaubensbrüdern: den Lupensammlern.

"Der Verfasser hegt die törichte Hoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet, Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind, die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten."

Einblicke in eine zerrissenen Seele

"Das Wichtigste ist das Beobachtete", lautete Roths literarische Maxime. Was er als journalistischer Lumpensammler von seinen Wanderungen mitgebracht hat, legt die Andere Bibliothek jetzt in gewohnter editorischer und buchgestalerischer Sorgfalt vor. Volker Breidecker hat dem neuen Glanzstück der einzigartigen Buchreihe ein umfangreiches Nachwort beigefügt, das Joseph Roths Methode des "erkennenden Sehens" nachgeht.

Der Band bringt leuchtende Impressionen mit düsteren Schlaglichtern "Out of the Dark" zusammen und gewährt auf diese Weise zugleich Einblicke in die zerrissene Seelenlage eines Autors, dem eine mörderische Politk alles genommen hat, was ihn am Leben erhielt.