Buchcover: "Die fünfundsiebzig Blätter und andere Manuskripte aus dem Nachlass" von Marcel Proust

"Die fünfundsiebzig Blätter" von Marcel Proust

Stand: 20.01.2023, 12:00 Uhr

Ein Fund, der Frankreich in Aufregung versetzte: frühe Manuskripte von Marcel Proust, auf denen der Schriftsteller erste Entwürfe für den Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" formulierte. Die spektakulären "75 Blätter" sind jetzt in deutscher Übersetzung erschienen.

Marcel Proust: Die fünfundsiebzig Blätter und andere Manuskripte aus dem Nachlass
Herausgegeben von Nathalie Mauriac Dyer.
Aus dem Französischen von Andrea Spingler und Jürgen Ritte.
Suhrkamp Verlag, 2023.
300 Seiten, 28 Euro.

"Die fünfundsiebzig Blätter" von Marcel Proust

Lesestoff – neue Bücher 20.01.2023 05:33 Min. Verfügbar bis 20.01.2024 WDR Online Von Dirk Fuhrig


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Der Kuss vor dem Zubettgehen

Es ist eine der berühmtesten Szenen der Literaturgeschichte: das schmerzhafte Zubettgehen des kleinen Marcel.

"An jenem Abend war meine Qual größer als sonst, denn ich sollte nicht bei Tisch dabei sein, sondern Maman gute Nacht sagen, bevor sie sich zum Essen begab (…) In der halben Stunde, die der fatalen Minute vorausging, war ich wie ein Verurteilter. Manchmal bat ich inständig, mit flehendem Blick um ein paar Minuten Gnade, mein Onkel, mein Großvater, jeder mischte sich ein und erteilte einen Ratschlag, halb neun, das sei schon spät für ein Kind, ohne zu wissen, welche Schläge sie mir versetzten."

Das Drama des Gutenacht-Kusses - eines der Grundmotive in dem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Marcel Proust hat diese Episode schon einige Jahre, bevor er mit dem Verfassen des siebenbändigen Romans begann, in groben Zügen niedergeschrieben.

Eine unfassbare Entdeckung

Das lässt sich an den "75 Blättern" ablesen, die vor kurzem aufgetaucht sind. Aus heutiger Sicht ist unfassbar, dass eine Erbin des Schriftstellers, Suzy Monte-Proust, sie dem damals noch jungen Verleger Bernard de Fallois einfach so überlassen hatte.

Aber kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war der Autor der "Recherche" eben noch nicht DER alles überragende Kultautor, der er heute ist - auch dank einer genialen Erfindung,  - des in heißen Tee getauchten Gebäcks:

"Wie hätte ich wissen sollen, dass all diese Sommer, der Garten, in dem ich sie verbrachte, der Kummer, den ich da hatte, der Himmel, der darüber war, und das ganze Leben der Meinen, dass all das übergegangen war in eine kleine Tasse heißen, siedendheißen Tee, in der trockenes Brot einweichte. Wäre ich der Tasse siedendheißen Tees nicht begegnet – und das hätte sehr gut sein können, denn üblicherweise trinke ich keinen –, wären jenes Jahr, jener Garten, jener Kummer für mich wahrscheinlich nie wieder aufgelebt. Aber vor einigen Tagen, als es wieder einmal eiskalt war, bin ich durchfroren heimgekommen…"

Auf den "75 Blättern" ist es noch ein Stück Brot. Später in der "Recherche" wird daraus die berühmte "Madeleine“, das Stück Kuchenteig in Form einer Jakobsmuschel. Und aus dem simplen "Tee“ wird der poetischere Lindenblüten-Tee.

Die Grundzüge seines monumentalen Romanwerks

Marcel Proust hat diese jetzt aufgetauchten Skizzen zwischen Ende 1907 und Mitte 1908 aufgeschrieben. Darin sind schon die Grundzüge des monumentalen siebenteiligen Romanwerks enthalten, dessen erster Band 1912 veröffentlicht wurde. Proust schrieb daran bis zu seinem Tod 1922. Der letzte Band erschien erst fünf Jahre später im Verlag Gallimard.

Auf den "75 Blättern" nennt Marcel Proust die Mitglieder seiner Familie, die sich im Haus beim Abendessen und in der Umgebung zum nachmittäglichen Spaziergang einfinden, noch bei ihren echten Namen: die Großmutter heißt Adèle, die Mutter Jeanne - später literarisiert er sie zu Bathilde und einfach nur "Maman",  also Mutter. Der Nachbar, der zu Besuch kommt, heißt de Brettevilles. Im Roman wird daraus  - zumindest in einigen Charakter-Zügen - Charles Swann.

"Bei Proust, der von sich glaubte, über keinerlei Phantasie´ zu verfügen, wird die romaneske Ader sich gegenüber der autobiographischen oder der autofiktionalen Inszenierung durchsetzen."

Ein besonderer Glanzpunkt

Schreibt Nathalie Mauriac Dyer im klugen Nachwort zu dieser Ausgabe. Es geht hier also auch darum, wie Marcel Proust vom Dandy, der sich in den Pariser Salons der Jahrhundertwende herumtrieb und Beobachtungen einfing, zum genialen Schriftsteller wurde, der eines der feinsinnigsten und umfangreichsten Werke der Weltliteratur geschaffen hat. Vom autobiografischen Notieren zur künstlerischen Gestaltung.

Nach den zahlreichen neuen Veröffentlichungen rund um den Autor, die - anlässlich seines 150. Geburtstags am 10. Juli 2021 und seines 100. Todestags am 18. November 2022  - in den vergangenen Jahren erschienen, sind diese "75 Blätter" mit den Handschriften des frühen Proust, ein ganz besonderer Glanzpunkt.