
"Die wilde Wut des Wellensittichs" von Peter Probst
Stand: 01.06.2022, 07:00 Uhr
Erwachsenwerden kann eine Qual sein. Das merkt auch der sechzehnjährige Peter Gillitzer, der sich Mitte der 1970er Jahre auf der Suche nach dem erstem Sex und dem eigenen Ich an seiner Familie abarbeitet. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.
Peter Probst: Die wilde Wut des Wellensittichs
Verlag Antje Kunstmann, 2022.
320 Seiten, 24 Euro.
Seine Freundin hat den Durchblick – schließlich ist sie zwei Jahre älter als er mit seinen gerade mal sechzehn.
"Alle Eltern sind Scheiße. Weil sie Eltern sind. Du kannst dich über deine wenigstens aufregen."
Aufregen ist gar kein Ausdruck. Wenn Peter Gillitzer etwas hasst, dann ist es sein Vater. Nicht immer und jederzeit, aber meistens und überhaupt. Denn dieser Vater steht für alles, was er verabscheut: das Militär, Franz Josef Strauß, die Katholische Kirche und das Verbot von vorehelichem Sex. Doch genau den hat er Tag und Nacht im Kopf – nachts noch ein bisschen mehr. Schließlich ist es schon anderthalb Jahre her, dass ihn ein Mädchen von seiner – wie man damals sagte – "Unschuld" befreit hatte.
"Mein erstes Mal mit Hetti hatte mich zwar umgehauen, war aber, wie Holger mir in der Zwischenzeit klargemacht hatte, gar kein richtiger Sex gewesen. Sex wäre nicht zärtlich, hatte er gesagt, und schon gar nicht romantisch. Beim Sex ginge es mächtig zur Sache."
Aber wie soll man Erfahrungen sammeln, wenn immer alles schief läuft? Beim Sprachkurs in England wird Peter sogar zusammengeschlagen, als er ein Mädchen anbaggert. Immerhin lernt er dadurch Zita kennen, eine deutsche Mitschülerin, erfahren und cool, wenn auch sozial am Rand der Gesellschaft: zuhause lebt sie in einem Jugendheim. Ihm doch egal, sie ist sein Traum!
"Sie trug weite Hosen und einen verwaschenen Pulli. Nach der Vorstellungsrunde zog sie ein Buch aus der Tasche – "Unterm Rad" von Hermann Hesse."
Seit J. D. Salingers berühmter coming of age-Geschichte „Der Fänger im Roggen“ gehört es zum guten Ton des Genres, dass die potentielle Tragik durch Komik abgefedert wird - auch bei Peter Probst, der seinen Helden schon einmal die bitteren Qualen eines Heranwachsenden durchleben ließ: "Wie ich den Sex erfand". Nicht weniger qualvoll-komisch jetzt die Fortsetzung "Die wilde Wut des Wellensittichs". Denn zurück in München will Peter sich auf die Suche nach der coolen Zita machen, doch alle Versuche, der familiären Überwachung zu entkommen, scheitern kläglich. Und dann erfährt er auch noch, dass seine Traumfrau ihn zuhause besuchen wollte - und der Vater sie einfach rausgeworfen hat.
"Unser Kunstlehrer, Herr Reiser, hatte kürzlich gesagt: 'Ihr müsst eure Väter töten, wenn ihr eigenständige Persönlichkeiten werden wollte – natürlich nur symbolisch.' Wie so eigentlich nur symbolisch? dachte ich, mein Vater hat Zita ja auch nicht nur symbolisch verjagt."
Der Autor hat erkennbar Autobiographisches in seinen Roman einfließen lassen, zum großen Vergnügen besonders für alle, die sich noch an die nachrevolutionären 1970er erinnern: das deutsche konservativ verklemmte Bürgertum auf der einen Seite, auf der anderen die sogenannten "Hippies" mit ihren auftrumpfend neuen Lebensformen. Zita ist denn auch keine arme Waise, sondern das Produkt alternativer Kommunen-Erziehung, mit Eltern, die auf ihre Art ebenso peinlich sind wie die von Peter. Sie bestehen nämlich auf überall offenen Türen – auch beim Klo.
"Ich ging vorbeugend zu Hause oder in der Schule auf verschließbare Toiletten und lehnte bei Zita sämtliche Speisen ab, die ich im Verdacht hatte, abführend zu wirken – Vollkornbrot, Müsli, Kirschen, Milch, Äpfel, Pflaumen und sämtliche Getränke. Stattdessen aß ich jede Menge Schokolade."
Ein Teenager aus dem Vorort-München im Sog der 68er Bewegung auf der Suche nach dem eigenen Ich – eine leichthändige und amüsante Sommerlektüre, nicht nur, aber auch. Denn erste große Lieben haben ihr eigenes Gewicht, und ernsthafter, tiefer Schmerz kann durchaus beim zum Erwachsenwerden helfen, wie Peter Gillitzer erfahren muss. Ebenso dass zur Freiheit mehr gehört als nur das Öffnen des Käfigs, damit der väterliche Wellensittich davonfliegen kann. Eine Binsenwahrheit. Stimmen tut sie dennoch. Oder?
"Vielleicht gibt’s da ja keine Wahrheit. Die einen sehen es so, die anderen anders. Und am Ende hat der mit der glaubwürdigsten Geschichte recht.
Auch ein Stück Zwetschgendatschi?"