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Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an
Suhrkamp Verlag, 2022.
256 Seiten, 25 Euro.
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"Das Foto schaute mich an. Die Nähe fesselte mich, erschreckte mich sogar. Ich wusste nicht einmal, wo Krasnoarmijsk sich befindet, doch dieser Mann stand vor mir, viel zu nah, und blies mir seinen Rauch ins Gesicht. Ich wartete darauf, dass der Rauch sich auflöst und ich sehe, ob er lächelt oder grinst. Aber nein, er schaute in den Rauch seiner Zigarette und blieb wie in ein Geheimnis gehüllt."
So fängt es an, das neue Buch von Katja Petrowskaja, mit dem titelgebenden Satz und einem Foto, das einen Bergmann vom Donbass zeigt. Der Text war der erste einer Folge von Foto-Kolumnen, die die aus der Ukraine stammende Schriftstellerin in den vergangenen sieben Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht hat.
Schon damals war klar, was im Angesicht des derzeitigen Krieges noch unabweisbarer vor Augen steht: Bilder zeugen von politischer Geschichte und menschlichen Geschichten, sie stecken voller Wirklichkeitsspuren, sind zugleich winziger Ausschnitt und realer Moment einer nie in ihrer Ganzheit erfassbaren Gegenwart. Was sehen wir, wenn wir ein Foto betrachten? Petrowskajas Buch umkreist diese Frage am Beispiel immer neuer Bilder.
"Ich war noch nie dort gewesen, in Donezk, Luhansk, ich schaute auf die Karte: Der Ort heißt Stschastje, auf Russisch »Glück«, dort waren an einer Bushaltestelle zwei Menschen umgekommen, rein zufällig. Zerbombte Häuser, freiwillige Kämpfer, Flüchtlinge, Feldzüge, Bilder über Bilder. Warum ausgerechnet dieses Foto?"
Es wäre falsch, dieses Buch lediglich vor dem Hintergrund von Krieg, Politik und Geschichte zu lesen, obwohl der Wahnsinn der Welt darin eine unausweichliche Rolle einnimmt. Die Autorin betrachtet sehr unterschiedliche Fotos, künstlerische ebenso wie Familienbilder und Zufallsfunde anonymen Ursprungs. Erfreulicherweise ist jedes einzelne davon im Band abgedruckt. Mal stellt Petrowskaja die großen Fragen der Fototheorie, mal geht sie den Besonderheiten einzelner Motive nach, und nie ist beides scharf zu trennen. Ihrer genauen, tastend erkundenden Literatur geht es darum, den Formen, Sujets und Wirklichkeiten der gezeigten Bilder in einer einzigen Schreibgeste gerecht zu werden.
"Bilder strömen von überall her auf uns ein: aus Zeitungen, Büchern, von Plakatwänden, Ausstellungen, aus dem Smartphone und dem Internet. Ein einzelnes Foto zu besprechen war mein Versuch, innezuhalten und zu verweilen. Ich wollte die Inflation der Bilder bremsen, nicht weltweit, sondern für mich, als wäre das Betrachten ein langsamer, etwas altmodischer Prozess."
Wer sich auf die jeweils etwa drei Druckseiten umfassenden Miniaturen einlässt, begegnet einer Vielfalt von Motiven: der Linkshändigkeit ebenso wie Sperrgebieten, Menschen ebenso wie Landschaften und Dingen. Petrowskaja recherchiert, sie verfolgt Lebensläufe, kontaktiert Fotografen, erinnert sich. Stets geht es darum, den im Foto festgehaltenen Realien nachzugehen, das Bild als Dokument und Teil der Welt zu begreifen, als etwas, das uns Welt zeigt und zugleich seine eigenen Spuren hinterlässt in Leben einzelner Menschen. Zum Beispiel, wenn sie mehr über die Fotografin herausfindet, die den Bergmann vom Donbass aufgenommen hat, mit dem das Buch beginnt:
"Die Fotografin fuhr regelmäßig Richtung Front, fotografierte Menschen und Städte und schwor, das sei nicht gefährlich. Sie hat die Serie ‚Fotografieren Sie uns nicht, sonst kommen sie und schießen‘ genannt.
Dies soll ihr einer der Bergleute gesagt haben, als hätte er mit der Doppeldeutigkeit des englischen ‚shoot‘ spielen können. Ist das die Logik des Krieges oder der Kunst?"