Buchcover: "Simón" von Miqui Otero

"Simón" von Miqui Otero

Stand: 12.12.2022, 12:00 Uhr

Vom Kleinbürgerkind zum Edelkoch: "Simón" schafft den sozialen Aufstieg durch sein kulinarisches Talent, aber auch mit Hilfe der Literatur, die er bei den Antiquaren in Barcelonas Altstadt entdeckt. Eine Rezension von Dirk Fuhrig.

Miqui Otero: Simón
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Klett Cotta, 442 Seiten, 25 Euro.

"Simón" von Miqui Otero

Lesestoff – neue Bücher 12.12.2022 05:05 Min. Verfügbar bis 12.12.2023 WDR Online Von Dirk Fuhrig


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Das Stammlokal als Dreh- und Angelpunkt des Seins.

"Es ist unfassbar, dass so viele Leute in so vielen Kneipen überall auf der Welt im gleichen Augenblick meinen, die Lösung für alles gefunden zu haben, und die Welt trotzdem nicht immun ist gegen Krankheiten, gefeit gegen Unheil, vom Unglück verschont, ein Hort der Wunder. Dass trotz all der Millionen Menschen, die genau in diesem Augenblick über die entscheidendste Frage streiten, sich in unantastbare Prinzipien verheddern und die Weltformel finden, alles so prekär ist, so relativ"

Simón und sein älterer Cousin Rico verbringen ihre Jugend im Dunstkreis dieser populären Kneipe, die von ihrer Familie betrieben wird. Hier begegnen sich Alt und Jung aus der Nachbarschaft zum trinken, essen, quatschen, philosophieren.

 Kein Wunder, dass sich der Held als Jugendlicher zunächst ebenfalls als Gastronom versucht. Er beliefert die Marktfrauen in Sant Antoni mit heißem Kaffee.

Von den Musketieren inspiriert

Gleichzeitig entdeckt er dort aber die Stände der Antiquare, die jeden Sonntag ihre gebrauchten Bücher anbieten. Die greift er sich mehr oder weniger wahllos - und stößt dabei auch auf Klassiker wie "Die drei Musketiere" von Alexandre Dumas.

Die Mantel- und Degen-Abenteurer nimmt er sich zum Vorbild bei seinem Aufbruch in die große weite Welt. Denn dieser von der Literatur besessene Simón will ein berühmter Koch werden. Ganz ohne Furcht und Tadel dringt er bis in die Höhen der Luxusküche vor:

"Simón (…) nahm das in Angriff, was er für seinen ersten ernsthaften Job hielt, ein Praktikum in einem baskischen Zwei-Sterne-Restaurant gleich hinter der französischen Grenze."

… und dort fliegen die Töpfe und Pfannen durch die Gegend. Die heilige Kunst der Sterneküche erweist sich bald als üble Plackerei.

Der Aufstieg Barcelonas

Den Rahmen für diesen Entwicklungsroman bildet der rasante Aufstieg der Stadt Barcelona seit den 80er-Jahren - für die ja der Starruhm des katalanischen Molekular-Kochs Ferran Adrià und seines legendären Restaurants "El Bulli" ebenso steht wie die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1992, die ein Symbol für die Überwindung der Diktatur und den Aufbruch Spaniens waren. Damals wurden die Konflikte zwischen Katalonien und der Zentralregierung in Madrid noch überdeckt:

"Der spanische König zog zur katalanischen Nationalhymne ´Els Segadors’ ins Stadion ein, was sowohl den Befürwortern einer Republik als auch den katalanischen Nationalisten die Möglichkeit nahm, den Monarchen auszupfeifen, und umgekehrt den spanischen Nationalisten, die katalanische Hymne zu boykottieren."

Ein Panorama der Zeitgeschichte

Der Roman über den schelmenhaften Simón, der sich seine Bildung autodidaktisch aus Second-Hand-Büchern saugt, ist also auch ein Panorama der Zeitgeschichte. Das islamistische Attentat auf der beliebten Allee Ramblas am 17. August 2017 ist ein weiter Fixpunkt:

"Und dann, auf Höhe des Mosaiks von Miró, verlangsamte sich irgendwie alles, obwohl in diesem Moment ein Lieferwagen die Rambla hinunterfuhr, in einem Höllentempo, immer im Zickzack, um möglichst viele Leute zu erwischen. Schon knallte er in die ersten Touristen."

Miqui Oteros Roman ist prall gefüllt mit Barcelona-Ambiente.

Ein platisches Porträt

Auch wenn die Irrungen und Wirrungen seines Helden Simón und dessen literarisch-kulinarischer Herzensbildung mitunter etwas abschweifig erzählt werden, ist das Buch ein sehr plastisches Porträt von Oteros Heimatstadt und deren Bewohner.

Nicht zuletzt werden die sozialen Verwerfungen deutlich, die als Kollateralschaden der rasanten Entwicklung Barcelonas zur globalen Tourismus-Metropole zu verzeichnen sind.  

"Seit einigen Monaten hallte ein rauer Soundtrack durch das Viertel. (…) Es handelte sich um den Sound der Rollkoffer: Wenn man auf einer Café-Terrasse saß und die Augen schloss, konnte man hören, wie die Touristen über das Pflaster mit dem typischen Blumenmuster ratterten, das überall in dieser Stadt die Gehwege schmückte."

Liebevolle Charakterzeichnung

"Simón" ist eine Huldigung an das Barcelona der einfachen Leute, eine Warnung vor den Verheerungen durch den Immobilienboom - vor allem aber die liebevolle Charakterzeichnung eines jungen Mannes, der mit Don Quijote’schem Witz, durch sein Talent und mit Hilfe der Weltliteratur seinen Weg im Leben findet.