Buchcover: "Mary & Claire" von Markus Orths

"Mary & Claire" von Markus Orths

Stand: 01.03.2023, 12:00 Uhr

Zwei liebeshungrige Stiefschwestern und zwei Skandaldichter, der Versuch, im Zeitalter der Romantik frei von allen Konventionen zu leben, ein verschollener Roman und ein bis heute visionärer – das sind die Ingredienzien von Markus Orthsʼ Roman "Mary & Claire".

Markus Orths: Mary & Claire
Hanser Verlag, 2023.
304 Seiten, 26 Euro

"Mary & Claire" von Markus Orths

Lesestoff – neue Bücher 01.03.2023 05:45 Min. Verfügbar bis 29.02.2024 WDR Online Von Oliver Pfohlmann


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Es ist der wohl berühmteste Schreibwettbewerb der Literaturgeschichte, von dem Markus Orths in einem neuen Roman erzählt. Zu ihm kam es, weil ein Vulkanausbruch im Pazifik im Sommer 1816 für schlechtes Wetter in Europa sorgte. Und eine legendäre Lebens-, Liebes- und Arbeitsgemeinschaft wochenlang in der Villa Diodati am Genfersee festsitzen ließ. Als den eingeschlossenen Romantikern der Vorrat an deutschen Schauergeschichten ausging, beschlossen sie kurzerhand, selber welche zu schreiben. Sie, das waren die damals 18-jährige Mary Godwin, die spätere Mary Wollstonecraft Shelley, ihr späterer Ehemann, der Dichter Percy Shelley, sowie Marys lebenshungrige Stiefschwester Claire Clairmont. Hinzu kamen noch der Skandaldichter Lord Byron, eine Art Literaturpopstar seiner Zeit, und sein ebenfalls literarisch ambitionierter Leibarzt John Polidori. Gewonnen hat diesen Wettbewerb, jedenfalls in den Augen der Nachwelt, Mary Shelley, und zwar mit ihrem Roman "Frankenstein oder Der moderne Prometheus". Ihr visionärer Erstling begründete auf einen Schlag das Science-Fiction-Genre ebenso wie das der Horrorliteratur. Heute, im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, ist er aktueller denn je. Marys Hellsichtigkeit findet in Markus Orthsʼ Roman auch die Bewunderung ihres Liebhabers Percy Shelley:

"Du stellt die Frage nach der Wissenschaft, die sich von allen Knebeln befreit. Ob alte oder neue Wissenschaft. Und darin steckt die Frage nach dem entfesselten Menschen, der Gott spielt und Leben erschafft. Du gibst keine Antwort. Das ist gut."

Der berühmte Schreibwettbewerb steht aber nicht im Mittelpunkt von Orthsʼ Roman. Zum Glück, muss man sagen. Schließlich wurde der gemeinsame Drogen- und Liebesrausch in der Villa Diodati schon etliche Male nacherzählt, surrealistisch wie in Ken Russells Film "Gothic" oder multiperspektivisch wie jüngst in Timo Feldhausʼ "Mary Shelleys Zimmer". Auch ist die berühmte Schriftstellerin – der Titel "Mary & Claire" verrät es schon – nicht die einzige Hauptfigur von Orthsʼ Roman. Denn viel zu lange stand Marys wilde Stiefschwester im Schatten der "Frankenstein"-Autorin. Dabei war es Claire, die Mary mit dem jungen Dichter Shelley zusammenbrachte – um sich dann zielstrebig Lord Byron als Liebhaber zu angeln und das Treffen am Genfersee zu arrangieren. Großartig versteht es der Autor dabei, aus den Gegensätzen und Rivalitäten zwischen den beiden Stiefschwestern ein ums andere Mal literarische Funken sprühen zu lassen. Hier die melancholische, vom Tod ihrer Mutter im Kindbett gezeichnete Mary, dort die liebestolle, exaltierte Claire. Die so unabhängig ist, dass sie sich sogar einen eigenen Namen gibt und damit neuerfindet; denn ursprünglich hieß Marys Stiefschwester Jane.

"'Jane & ich', sagte Mary, 'sind wie Sonne und Schatten.' 'Und wer ist die Sonne?', fragte Percy. 'Und wer ist der Schatten? Und noch wichtiger: Wer ist der Dritte? Bei Sonne und Schatten muss es doch jemanden geben, der in der Mitte steht und den Schatten wirft. Oder nicht?'"

Das für die Zeitgenossen skandalöse Treiben dieser Ménage-à-trois wird von Markus Orths ebenso hinreißend wie fulminant erzählt. Etwa wie der längst verheiratete, schwer verschuldete Atheist Percy mit den beiden jungen Frauen in einer Kutsche durchs kriegsversehrte Frankreich rumpelt, immer unter dem Banner der freien Liebe. Es ist das unbändige Verlangen nach Freiheit, das diese frühen Hippies eint, gegen alle Autoritäten und Konventionen. Und natürlich die Liebe zur Literatur. Wobei das Schreiben gerade für die Frauen zum Medium der Emanzipation wird; ein Umstand, der Mary – Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Anarchisten William Godwin – wohlbewusst ist:

"Schreiben, erfinden, erzählen, erschaffen. (…) Und das als Frau. Gegen alle Regeln. Für eine Frau gab es Schminke statt Tinte; ein weißes Hochzeitskleid statt weißes Papier; Kinder statt Bücher; Stummheit statt Stimme."

Auch Claire schrieb damals einen Roman, "The Idiot". Byron höchstselbst zeigte sich beeindruckt, nur leider ging das Werk verschollen – eine Leerstelle, an der sich Markus Orthsʼ Einbildungskraft eindrucksvoll entzündet. Überhaupt beeindruckt sein Roman durch seine Sprachlust und seinen Humor und nicht zuletzt durch seine stupende stilistische Bandbreite. Keine Frage also: Mit "Mary & Claire" ist dem 53-jährigen Karlsruher Romancier ein großartiger historischer Roman geglückt.