"Suche nach Spuren eines Selbstmordes" von Tezer Özlü

Stand: 26.09.2024, 07:00 Uhr

Die türkische Schriftstellerin Tezer Özlü hat 1982 eine einzigartige Reisebeschreibung verfasst, rastlos und unersättlich treibt es sie nach Prag, Triest und Turin – und zugleich in ihr Innenleben. „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ ist der Titel dieser mitreißenden Aufzeichnungen. Eine Rezension von Stefan Berkholz.

Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmordes
Bibliothek Suhrkamp, 2024.
208 Seiten, 23 Euro.

"Suche nach Spuren eines Selbstmordes" von Tezer Özlü Lesestoff – neue Bücher 26.09.2024 05:25 Min. Verfügbar bis 26.09.2025 WDR Online Von Stefan Berkholz

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Das rastlose und unersättliche Hin und Her auf einer Reise zwischen Berlin, Hamburg, Prag und Italien ist der Grundstoff für diesen Roman. Tezer Özlü ist 39 Jahre alt, als sie im Juli 1982 zu einer „Reise an die Enden meiner eigenen Grenzen, auf der ich noch weitergehe“ aufbricht, wie sie schreibt, zu einer „Fahrt nach den Spuren meiner Literatur“, auf der „Suche nach den Wörtern und den Geheimnissen des Lebens“.

Außer in den Büchern war ich niemandem begegnet, der mein Ich, meine Grenzenlosigkeit hinnehmen konnte. Daraus resultierte mein unermüdliches Suchen. Aber immer bin ich es selber, die mich hinnehmen muss. In einem beliebigen Menschen oder in einem beliebigen Bild des Tages. Oder der Nacht. (…) Je größer die Phantasie des Einzelnen, desto größer ist seine Liebe. Unerfüllbarer. Und damit auch sein Schmerz.

Tezer Özlü besucht das Grab von Franz Kafka in Prag, eine Woche später ist sie am Grab von Italo Svevo in Triest und an der Gedenkstätte für James Joyce. Und in Turin befindet sie sich schließlich im Totenzimmer und am Grab von Cesare Pavese, „der ewig Einsame“, wie sie ihn bezeichnet, „dieser Einsame dieser verdammten Welt“.

Niemand kann die Beziehung jener Frau, die ich bin, zu ihm, der Selbstmord beging, als ich sieben Jahre alt war, verstehen. Niemand kann verstehen, warum ich in Turin bin. Niemand kann ahnen, dass ich in seinem gelungenen Selbstmord meinen nicht gelungenen erkenne. Dass ich ihn suche, um bei ihm zu bleiben.

Grenzen überwinden, ersehnt sich diese manische Schriftstellerin, zu den Toten gelangen, im Wort das Leben ergründen. „Schmerz ist endloser als Liebe“, schreibt sie: „Liebe ist endlos wie der Schmerz“. Seit dem Militärputsch von 1980 ist Tezer Özlü verfolgt, sie lebt im Exil und sucht nach dem Sinn in diesem Leben. Förmlich besessen ist sie von jenem todessehnsüchtigen italienischen Schriftsteller, Cesare Pavese.

Jetzt bin ich hier. Er ist in der Welt der Toten. Und ich bin in der lebendigen Welt, die aus Liebe zu den Toten besteht. Die Kluft zwischen den Toten und uns Lebendigen ist eine der größten Tragödien, die man fast nicht überwinden kann. Und dies bedrückt. Und dies bedrückt den Tag. Die Nacht. Den Schlaf. Die Sehnsucht.

Immer wieder fügt Tezer Özlü Zitate von Cesare Pavese ein. Sie hatte ihn ins Türkische übersetzt, er war für sie so etwas wie ein Wegweiser, Pavese, der mit dem Blick zum Tod lebte.

Jemand zu sein, das ist etwas anderes. Es braucht Glück, Mut, Willen. Vor allem den Mut, allein zu sein, als wären die anderen nicht vorhanden, und nur an die Sache zu denken, die du vorhast. Nicht zu erschrecken, wenn die Menschen darauf pfeifen. Man muss Jahre warten, muss sterben. Dann, nachdem du tot bist, wirst du jemand – wenn du Glück hast. Cesare Pavese.

In Westberlin war Tezer Özlü aufgebrochen. Atemlos folgen wir ihren Gedanken und Männerliebschaften, registrieren ihre Anmerkungen zur Absurdität des Daseins und dem Überfluss in den Geschäften, lesen von ihren Ängsten über die Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit im kalten Land der Täter, nehmen auf ihrer Fahrt teil am Elend von „Emigranten aus wirtschaftlichen Gründen“, wie sie schreibt. Tief Luft holt sie in Prag, wo die Menschen nicht verwöhnt wirken und belehrend, und lebt auf im Land der Sonne, Italien. Sehnsuchtsort Turin.

Manche Menschen sind von Geduld, manche von Ungeduld besessen. Ich gehöre zu den letzteren. (…) Warum Geduld haben mit diesem Lebensschmerz. (…) Warum Geduld haben mit diesem grellen, zeitlosen Sommerlicht. Warum noch weiter Geduld haben mit dem Selbstmordtrieb, der angeboren ist.

Im Februar 1986 stirbt Tezer Özlü, die heimatlos Suchende, in Zürich, sie wird 42 Jahre alt. Mit 42 Jahren hatte sich Cesare Pavese das Leben genommen, im August 1950. Tezer Özlü hat poetische, flirrende, fragende, wütende Sätze hinterlassen aus einer Welt, in der sie die Fremde blieb. Eine Prosa voller Leiden.