
"Mutters Stimmbruch" von Katharina Mevissen
Stand: 27.03.2023, 12:00 Uhr
Wie sonderbar ist das Älterwerden. Katharina Mevissen erzählt höchst rätselhaft und poetisch von einer Frau in den Wechseljahren, die grollt und bockt. Ein Buch wie ein surrealistisches Gemälde. Eine Rezension von Corinne Orlowski.
Katharina Mevissen: Mutters Stimmbruch
Wagenbach Verlag, 2023.
112 Seiten, 22 Euro.
Mutter allein zu Haus. Das kann nicht gut gehen, wenn sich gerade ihr Körper in einer Transformation befindet. Sie wird alt und sich zum Rätsel. Ihr Körper zerfällt, die Zähne gleich mit, sie friert, der Hals tut weh und dann versagt auch noch die Stimme.
"Seit ein paar Wochen muss Mutter sich morgens nach dem Aufwachen erst mal sammeln. Manches fehlt immer, und manches ist immer da. Auch heute: sind die Lungenflügel zu zweit, die Augen auch. Zweiunddreißig Zähne, keine Stimme und nur eine Zunge. Zwei Brüste und ein einziges Herz. Was für ein Leichtsinn, findet Mutter."
Wie der Körper lädiert, so renovierungsbedürftig auch ihr Haus: das Dach ungedämmt, die Fenster verzogen, der Wasserdruck in der Heizung stimmt nicht. Draußen wird es Herbst. Der Garten ist natürlich auch noch nicht winterfest. Mutter ist nicht bereit und kann sich einfach nicht aufraffen. Die Kinder sind schon lange aus dem Haus. Sie grollt, streikt und schweigt.
"Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr. Manchmal spricht sie mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, beschimpft ihre Zähne oder das Radio."
Neun Sprachen? Ja, darunter die Kindersprache, die Haus- und Gartensprache. Die vier Fremdsprachen hat sie im Tausch ihrer Eckzähne erhalten. So sonderbar sich Mutter fühlt, so sonderbar ist auch Katharina Mevissens Buch "Mutters Stimmbruch" verfasst. Mutter ist eine irrwitzige Figur, ihr Alter nicht näher bestimmt. Fakt ist nur, sie ist einsam und befindet sich im Umbruch, einer Mischung aus Pubertät und Wechseljahren.
"Mutter hat junge Beine und grobe Hände. Sie hat große Zähne, alte Brüste und feste Waden. Ihr Körper ist ungleich gealtert. An manchen Stellen ist sie schon verwitwet, an anderen noch jugendlich, hier alleinstehend, da zeitlos."
Mevissens Text ist voller Adjektive. Die haben in der Literatur eigentlich keinen so guten Ruf – sie gelten als Ballast. Hier sind sie notwendig, denn was Mevissen macht, ist pure Verrätselung. Und die ist äußerst poetisch. Weite Strecken lesen sich wie ein Langgedicht. Es sind aber kurze Prosaminiaturen, jede nur zwei bis vier Seiten lang, die voller atmosphärischer Bilder und Metaphern stecken. Die wirkmächstigste: Zähne. Mutter fallen die Zähne aus. Das illustrieren auch die grafischen Zeichnungen von Katharina Greeven, die den Text begleiten.
"Gestern fragte Mutter bloß zwei Mütter nach dem Weg zur Eisdiele, da fing die eine an zu lachen. Die Kinder fragten: 'Ist das ein Mann?' Da brüllte die Mutter zurück: 'Ich bin ein Monschter!' Ohne Gebiss im Mund klang das so schaurig, die Kinder glaubten ihr aufs Wort."
Zähne sind für das alltägliche Leben extrem wichtig, zur Nahrungsaufnahme, aber auch für die Artikulation von Sprache. In der Traumdeutung sind sie eines der meist gedeuteten Symbole. Schlechte Zähne stehen für Krankheit, mangelnde Energie, unerfüllte sexuelle Wünsche, ausfallende für Verlust und die Angst vor dem Älterwerden. In der Literatur haben sie sogar einen ganz eigentümlichen Status und fungieren mitunter als Zeichen für den Tod.
"Viele Jahre hat Mutter einmal im Monat geblutet. Aus ihrem Schoß drang das Blut, und ihre Beine wurden dabei schwer wie zwei Säcke Erde. Mutters Körper hat jetzt eine andere Zeit, blutet an anderen Stellen: am Zahnfleisch, aus der Nase. Es ist ein harmloses Bluten, findet Mutter, ohne Erde, ohne Gewicht, ohne Regel."
Das schmale, 112 Seiten starke Buch hat man schnell gelesen, trägt man aber lange mit sich herum. Ob jetzt so die richtige Jahreszeit dafür ist? Fraglich, so herbstlich und kühl ist der Text und man sehnt sich ja gerade so nach dem Frühling. Aber bekanntlich kann man sich ja auch nicht aussuchen, wann einem die Wechseljahre treffen oder man sich zum ersten Mal so richtig alt fühlt.
"Mutter geht Brustschwimmen. Sie lässt sich die Wanne ein, lässt ihre Brüste schwimmen. Hier verlieren sie ihr Gewicht und schweben. Mutter genießt ihre Wasserbrüste massig, nass und so leicht, als hätte sie sie abgelegt. Später macht sie mit schwerer Brust die Runde, im Apfelzimmer löscht sie das Licht."
Erst ein Zahn- und Ortswechsel löst die Verwirrung bei Mutter. Sie findet sich in ihrem Leben wieder besser zurecht, wird warm, "wandelt nicht mehr, wälzt sich nicht". Katharina Mevissen hat mit ihrem zweiten Buch "Mutters Stimmbruch" ein Text wie ein surrealistisches Gemälde geschaffen, mit ausdrucksstarkem Pinselstrich, triefenden Farben und viel Poesie. Damit avanciert sie zu einer der experimentierfreudigsten jungen Autorinnen derzeit und ist deshalb ungemein spannend.