"Der Dreh von Inkarnation" von Tom McCarthy

Stand: 22.05.2023, 12:00 Uhr

Für einen perfekten Science-Fiction-Film forschen die Figuren beim titelgebenden "Dreh von Inkarnation" in Tom McCarthys etwas strapaziös detailversessenen Roman nach neuen Technologien und der vollkommenen menschlichen Bewegung. Eine Rezension von Nicole Strecker.

Tom McCarthy: Der Dreh von Inkarnation
Suhrkamp Verlag, 2023.
445 Seiten, 25 Euro.

"Der Dreh von Inkarnation" von Tom McCarthy Lesestoff – neue Bücher 22.05.2023 05:42 Min. Verfügbar bis 21.05.2024 WDR Online Von Nicole Strecker

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Wir wissen es ja längst: Kein Film im Kino ist einfach nur ein wirklich 'gefilmtes' Kunstwerk. Überall ist längst die digitale Postproduktion am Werk, zaubert Stunts und Spezialeffekte herbei und erzeugt etwa mittels 'Motion Capture' und der Technik des 'Renderns' eine Wirklichkeit, die sich nie irgendwo ereignet hat. Für eine solche Firma arbeitet Mark Phocan, Hauptfigur im neuen Roman von Tom McCarthy. Er hat den Auftrag, im Science-Fiction-Blockbuster "Inkarnation" alles spektakulär gut aussehen zu lassen, ja: Filmgeschichte zu schreiben, jedenfalls wenn es nach dem Willen des Regisseurs geht.

"Ihre oberste Maxime lautet: Nicht kleckern – klotzen! Dressel will, dass die filmische Darstellung von Argerals Raumhafen Kultstatus bekommt; sie soll künftigen Science-Fiction-Autoren nicht nur als Quelle, Referenzpunkt und Messlatte dienen, sondern sich ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Kinogeneration eingraben, sie in die Träume verfolgen."

Die Story des künftigen Blockbusters klingt nach Kitsch, das Design aber wird offenbar State of the Art. So werden die Spezialeffekte regelrecht wissenschaftlich erforscht. Gleich im ersten Kapitel des Romans betrachten wir künstliche Riesenwellen in der Preußischen Versuchsanstalt für Wasser-, Erd- und Schiffbau in Berlin – es gibt sie wirklich. Und später testen Mark Phocan und sein Team in einem niederländischen Windkanal an einem Rennbob, wie starker auf das dem Raumschiff ähnlich sehende Sportgerät einwirkt. Doch die eigentliche Herausforderung für die IT-Experten ist der menschliche Körper in Bewegung.

"Schwierig wird es bei der Rückkehr in die analoge Sphäre, wenn menschliche Körper, die von Asymptoten und ihren Parabeln keine Ahnung haben, auf der Bildfläche erscheinen und mit ihrem Schwabbeln und Torkeln alles aus dem Gleichgewicht bringen."

Der Regisseur will Sex in der Schwerelosigkeit. Klingt cool, sieht aber offenbar ziemlich peinlich aus, trotz High-End-Motion-Capture-Technik.

"'Ist ja der reine Marionettenporno!', rief Herzberg, als er die ersten Einlichtmuster zu sehen bekam. 'Ein Schlachterschaufenster beim Erdbeben', stimmte Eldridge zu. 'Keulen und Lendenstücke beim Frontalzusammenstoß.'"

An solchen Stellen zeigt sich die Ironie, mit der Autor Tom McCarthy die ganze wahnwitzige Welterschaffungs-Technologie betrachtet. Wie die aktuellen Diskussionen um Künstliche Intelligenz, so prägt auch McCarthys Roman eine Grundhaltung zwischen Skepsis und Faszination.

Für die Bewegungsstudien zum Science-Fiction-Film reist eine Anwältin nach Riga, in das Archiv der frühen Ergonomin Lillian Gilbreth. Auch sie gab es wirklich. Gilbreth dokumentierte Mitte des 20. Jahrhunderts die Bewegungsabläufe von Fabrikarbeiterinnen. Bei Tom McCarthy nun glauben die Figuren, dass Gilbreth vielleicht einer Art "absoluten Bewegung" auf der Spur war, dem ultimativen Ursprung von Bewegung. Doch der Beweis dafür, die Schachtel 808, ist aus dem Archiv verschwunden.

Hier deutet sich ein Spionagethriller an. Russland soll involviert sein, das MI 6, doch die Jagd nach Schachtel 808 ist letztlich nur ein ziemlich dünner roter Faden, der nur lose McCarthys eigentliche Obsession zusammenhält: die wirkmächtige Welt der Maschinen. In weitschweifigen Exkursen erläutert McCarthy die Vorgänge in Renderingfirmen, Ganglaboren und Motion-Capture-Werkstätten.

Und man muss schon sehr bewundern, wie McCarthy sich in die verschiedenen Technologie-Sphären sprachlich eingearbeitet hat. Blickt eine Figur etwa einfach durch ein Fenster, hebt McCarthy an zu einem zehnseitigen Monolog über Glas.

"Die maschinengeschnittenen Rechtecke zeigen eine Regelmäßigkeit, ja eine Schärfe der Lichtausbreitung mit einem Refraktionsindex von höchstens 1,5% und Streuung, Reflexion und vergleichbare Verzerrungen sind entsprechend minimiert."

So eine nerdige Detailversessenheit muss man schon mögen, um ihr knapp 450 Seiten lang zu folgen. Wobei die ganze Beschreibungspotenz letztlich in die fast esoterische Frage mündet, welche Information eigentlich in jedem Material, jedem Windhauch, jedem Raum gespeichert ist. So weit entfernt sind eine poetische und eine technokratische Weltwahrnehmung gar nicht, demonstriert uns so Tom McCarthy. Eine strapaziöse Lektüre bedeutet seine literarische Fusion allerdings schon.