Buchcover: "Tomás Nevinson" von Javier Marías

"Tomás Nevinson" von Javier Marías

Stand: 28.11.2022, 12:00 Uhr

Eine Frage der Moral. Javier Marías letzter Roman Tomás Nevsion ist ein Meisterwerk. Eine Rezension von Simone Hamm.

Javier Marías: Tomás Nevinson
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
S. Fischer, 2022.
736 Seiten, 32 Euro.

"Tomás Nevinson" von Javier Marías

Lesestoff – neue Bücher 28.11.2022 05:39 Min. Verfügbar bis 28.11.2023 WDR Online Von Simone Hamm


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Vom Geheimdienst manipuliert

Tomás Nevison, halb Spanier, halb Brite, studiert in Oxford. Wie ein harmloser Campusroman fängt Javier Marías Roman "Berta Isla" an, der Vorgänger zu seinem letzten Roman "Tomás Nevison". Doch in Wirklichkeit beginnt alles mit einer Lüge.

Tomás Nevison hat die phänomenale Gabe, Sprachen schnell zu lernen, Dialekte perfekt zu imitieren. Der britische Geheimdienst ist an ihm interessiert und rekrutiert ihn mit einem grausamen Trick: Seine Geliebte sei ermordet worden, er stünde unter Mordverdacht. Nur der Geheimdienst könne ihn vor einer jahrzehntelangen Haftstrafe retten. Jahre später wird Nevison erfahren, dass es diesen Mord nie gegeben hat.

Er lebt fern von Madrid, von seiner Frau Berta Isla und seinen Kindern. Lange Jahre glauben sie, er sei gar nicht mehr am Leben.

In "Berta Isla" schreibt Javier Marías vor allem aus er Perspektive der wartenden Frau. Sein neuer Roman "Tomàs Nevison" zeigt den Blickwinkel des Mannes. Es sei nicht wirklich eine Fortsetzung, schreibt Javier Marías in seinem Nachwort, vielmehr bildeten die beiden Romane ein Paar.

"Ich wurde nach alter Schule erzogen und hätte nie gedacht, dass man mir eines Tages auftragen würde, eine Frau umzubringen."

Vom Warten und Beobachten

Mit diesem Satz beginnt "Tomás Nevison". Wie aus dem Nichts taucht Agentenführer Bertram Tupra auf und zeigt Tomás Nevison drei Fotos dreier Frauen. Eine von ihnen sei eine an die ETA "ausgeliehene" IRA Terroristin. Er solle herausfinden, welche. Es ist der Beginn der neunziger Jahre. ETA Attentate erschüttern Spanien.

Javier Marías schreibt einen Liebesroman über eine Ehe, die auf Lug und Trug, Täuschung und Wegschauen begründet ist. Kein Geliebter kann die Geliebte, keine Geliebte den Geliebten wirklich kennen. Er schreibt einen Spionageroman, der vorwiegend vom Warten und Beobachten handelt und der zugleich ein Essay über die großen Sinnfragen ist.

Gedanken an ein anderes Leben

Wieder und wieder hinterfragt Tomás Nevison seinen Auftrag. Was, wenn die Terroristin ein Leben in Frieden führe, abgeschlossen habe mit der Vergangenheit, nie wieder straffällig werden würde? Aber was, wenn sie eine Schläferin ist, die nur darauf warte, wieder zuzuschlagen? Fände er genug Beweise, um sie vor Gericht zu bringen? Müsse er sie töten? Eine Frau?

Javier Marías wechselt von der auktorialen Erzählweise zum Ich-Erzähler und zurück.

"An jenem fernen Tag hatte mein andauernder Tod begonnen, und jeden Morgen beim Aufstehen war ich mir immer noch nicht sicher, ob dieser Tod ein Ende gefunden hatte, ob ich noch in ihm verweilte oder immer ein Sterbender gewesen war, von Anfang bis zum Ende, und das Ende war jeder zusätzliche Tag. Zu viel Zeit jedenfalls."

Javier Marías lässt Tomás Nevison über Möglichkeiten, Alternativen, ein anderes Leben, die Vergangenheit philosophieren. Er fasst diese immer wiederkehrenden Gedanken in lange mäandernde Sätze, den typischen, ganz eigenen Marías Klang. Noch die kleinste Gefühlsregung, die alltäglichste Gewohnheit Nevisons greift er auf.

"Daran hatte ich mich gewöhnt: mich von Tomás Nevison auszuruhen, ihn zu verwischen und zu entlasten, jedenfalls abzuwechseln, eine Gewohnheit, die man unmöglich wieder ablegen kann."

Ein Roman mit soghafter Wirkung

Sein Roman ist grandios komponiert, die Sprache klingt rhythmisch, ja musikalisch. Das ist ein Sog, der immer tiefer hineinzieht in Nevisons Gedankenwelt, seine Zweifel, sein Zaudern. Über viele Seiten hinweg passiert in der Außenwelt rein gar nichts. Und doch: die Spannung bleibt.

In seinen Recherchen kommt Nevison nicht weiter. Bei keiner der drei Frauen findet er auch nur einen Hinweis auf eine mögliche ETA Mitgliedschaft.

"Ich zögerte kurz. Aber es war zu spät. Wenn man Zeit, Grübeleien und Wissen investiert hat, wird man zu ihrer Geisel, bis man das Ziel erreicht hat oder sich nicht in der Lage sieht, es zu erreichen."

Keine richtige Entscheidung

Er kann eine Unschuldige töten. Eine Schuldige, die geläutert ist. Er kann den Einsatz abbrechen. Dann würde wenigstens nicht er zum Mörder. Aber andere Agenten. Oder die Terroristin.

Was immer Tomás Nevison tun wird, es wird das Falsche sein. Javier Marías hat einen zutiefst pessimistischen Roman geschrieben. Einen Roman, der bleiben wird als das Vermächtnis eines großen Schriftstellers.