Buchcover: "Tür an Tür" von Ariel Magnus

"Tür an Tür" von Ariel Magnus

Stand: 09.06.2023, 12:00 Uhr

Als Juden aus Deutschland nach Argentinien fliehen mussten, trafen sie dort auf früher eingewanderte Deutsche, die mit den Nazis sympathisierten. Später kamen Nazi-Größen wie Eichmann und Mengele. Wie diese beiden Gruppen zusammenlebten, schildert Ariel Magnus in seinem beeindruckenden Buch "Tür an Tür. Nazis und Juden im Argentinischen Exil". Eine Rezension von Dirk Fuhrig.

Ariel Magnus: Tür an Tür. Nazis und Juden im argentinischen Exil
Kiepenheuer & Witsch, 2023.
176 Seiten, 20 Euro.

"Tür an Tür" von Ariel Magnus

Lesestoff – neue Bücher 09.06.2023 05:27 Min. Verfügbar bis 08.06.2024 WDR Online Von Dirk Fuhrig


Download

Ariel Magnus beginnt sein Buch mit einer fast unglaublichen Anekdote.

"Das Haus lag in der Monroestraße Nummer 4140, am Rande von Belgrano, dem deutschesten Kiez der argentinischen Hauptstadt. (…) In eine der beiden Erdgeschosswohnungen zogen meine Großeltern ein, ohne zu ahnen, welche Nachbarn im oberen Stock wohnten. Sie hießen Winkler."

Das heißt: Seine Großmutter, die ein Konzentrationslager überlebt hatte, wurde – kaum im sicheren Exil in Buenos Aires angekommen – mit nazi-freundlichen Mitbewohnern konfrontiert:

"'Hitler hat zu wenige von euch getötet', sagte Frau Winkler, wenn sie einen guten Tag hatte. An allen anderen Tagen kamen nur Schimpftiraden."

Ariel Magnus schreibt mit bitterböser Lakonie. Er, der Enkel, der 1975 in Buenos Aires geboren wurde, hält diese Tonlage in dem gesamten Text durch, der diesmal kein Roman, sondern eine Art Familienbiografie ist, in der sich Aspekte der Geschichte der deutschen Auswanderung nach Südamerika spiegeln.

"Ich wurde sowohl jüdisch als auch deutsch erzogen, das zweite Element wiegt am Ende schwerer, auch weil ich wieder in Deutschland lebe – genau wie zwei meiner drei Geschwister. Doch mein Deutschsein verliert sich bisweilen rasch, wenn ich unter Deutsche oder Nichtdeutsche mit dubiosen Ansichten gerate. Mit Empörung reagiere ich auf krude Anfeindungen aber so gut wie nie. Ich finde Empörung unelegant und sogar verschwendet, tendiere lieber zur Ironie."

Juden, die es geschafft hatten, während der 30er-Jahre nach Argentinien zu fliehen, trafen dort auf Deutsche, die schon im 19. Jahrhundert oder in den 20er-Jahren des 20. eingewandert waren – und die teilweise massiv für Hitler Partei ergriffen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg ließ der autoritäre Präsident Juan Perón zu, dass zahlreiche hochrangige Nazi-Verbrecher via Italien nach Argentinien geschleust werden konnten:

"Darf man also von Juan Domingo Perónnazi sprechen? Er hat mit Sicherheit und in aller Offenheit zumindest die Einwanderung von Wissenschaftlern befördert, schon immer ein begehrter Artikel hierzulande und nach dem Krieg sozusagen im Angebot."

Eigene Theater, eigene Sportvereine und Restaurants sowohl für Nazi-Anhänger als auch für Juden in Buenos Aires. Aber es gab auch Feindschaften zwischen bereits vor längerer Zeit eingewanderte Juden und den ‚Jeckes‘ aus Deutschland, die sich meist eher als Deutsche denn als Juden fühlten.

Für Ariel Magnus’ Großeltern war es selbstverständlich, dass die Kinder und Enkel ihre komplette Ausbildung auf Deutsch absolvierten:

"Jetzt taucht zumindest der Name der (…) Pestalozzi-Schule auf, die wichtigste Anti-Nazi-Institution Argentiniens und womöglich ganz Lateinamerikas während des Dritten Reichs."

Magnus verknüpft historische Fakten so prägnant und geschickt mit eigenen Erlebnissen und den Erzählungen seiner Verwandten, dass man das Gefühl hat, auf den nur 176 Seiten über eine ganze Epoche erschöpfend informiert worden zu sein. Es gelingt ihm, die so facettenreiche und mitunter skurrile deutsch-jüdische Mischung am Rio de la Plata aus seiner persönlichen Warte außerordentlich plastisch zu beschreiben – und auch deren Veränderung über die Jahrzehnte hinweg.

"Oma Ella hatte in Auschwitz zusammen mit anderen Insassen geschworen, sie würden niemals wieder nach Deutschland zurückkehren, falls sie überleben sollten. Sie hat tatsächlich überlebt, konnte aber nicht wissen, dass drei ihrer vier Enkel später in Deutschland leben würden – und dass sie deshalb auch ab und an gerne dort vorbeischauen würde."

"Tür an Tür" ist ein faszinierendes und beeindruckendes Buch, das ebenso viel über Deutsche und das ‚Deutschsein‘ erzählt wie über jüdische Identität, über die Tragik der Flucht und Verfolgung. Das hoch selbstironische Familienporträt eines 1975 in Argentinien geborenen deutschen Juden.

"'Der hiesige Jecke', so wird also zusammengefasst, 'hat seinen Wohnsitz in Argentinien, sein Herz in Israel, er denkt wie ein Deutscher (oder hat seinen deutschen Pass in der Tasche) und sein Bankguthaben in der Schweiz.'"