Buchcover: "Der Fischer und der Sohn" von Zülfü Livaneli

"Der Fischer und der Sohn" von Zülfü Livaneli

Stand: 29.03.2023, 12:00 Uhr

Angelehnt an Ernest Hemingways Novelle "Der alte Mann und das Meer" erzählt der türkische Multikünstler Zülfü Livaneli in seinem neuen Roman von Flüchtlingsdramen im Mittelmeer, von Heimat und Vertreibung und der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Titel: "Der Fischer und der Sohn". Eine Rezension von Stefan Berkholz.

Zülfü Livaneli: Der Fischer und der Sohn
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner.
Klett-Cotta, 2023.
190 Seiten, 20 Euro.

"Der Fischer und der Sohn" von Zülfü Livaneli

Lesestoff – neue Bücher 29.03.2023 05:06 Min. Verfügbar bis 28.03.2024 WDR Online Von Stefan Berkholz


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"Das ist ein riesiges internationales Geschäft", erzählt ein Schlepper in der Gefängniszelle. "Es geht um jede Menge Geld." Und um Leid und Tod und Vertreibung. Das Schicksal von Flüchtlingen im Mittelmeer, hin- und hergetrieben zwischen der Türkei und Griechenland, hilflos ausgeliefert den Wellen und der Willkür politischer und bürokratischer Funktionsträger.

"Was der Mann mit dem quecksilbrigen Blick erzählte, stieß die Tür zu einer ihnen völlig unbekannten Welt auf. 'Die aus Afrika werden zunächst immer in den Iran gebracht', sagte er. 'Auch Kriegsflüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan oder Pakistan kommen über den Iran. Der hiesige Chef trifft sich mit denen im Iran. Sie nehmen eine Gruppe von Flüchtlingen mit, marschieren tagelang, überqueren die Berge und bringen sie an die Grenze.'"

Zuvor folgen wir dem Schicksal eines Findelkindes, gerettet aus einem Schlauchboot vom türkischen Fischer Mustafa. Ihm war einst sein eigenes Kind vom Meer verschluckt worden. Und nun hofft Mustafa und glaubt, das Flüchtlingsbaby aufnehmen und behalten zu können, meint, es nicht den Behörden übergeben zu müssen. Aber wie soll er diesen Fund legalisieren?

"Als das Baby zum ersten Mal die Augen aufschlug, empfanden Mustafa und Mesude eine seltsame Freude, als wäre nicht nur dieses Baby, sondern die ganze Natur aufgeblüht, als trügen die Mandelbäume Brautkleider. Die schwarzen Augen des neuen Deniz ähnelten nicht den braungrünen Augen ihres eigenen Deniz, aber ihr Blick war auf die gleiche Weise unschuldig. Oder, besser gesagt: so unschuldig wie der aller Babys auf dieser Welt."

Wieder stöbert Livaneli Legenden und Erzählungen auf, fragt nach ihrem Wahrheitsgehalt, berührt politische Tabus in der Geschichte und Gegenwart und verarbeitet all das in seiner Literatur. Wieder streift er, wie schon in "Unruhe", seinem letzten Roman, oder "Serenade für Nadja" reale historische Ereignisse. Hier erinnert er an die Tragödie der Zwangsumsiedlung von 1,6 Millionen Menschen in den 1920er Jahren, als Folge des Ersten Weltkriegs. Mustafas Frau Mesude erinnert ihren Mann an die Vertreibung ihrer eigenen Familie.

"'Hör mal, Mustafa', sagte sie dann in sanfterem Ton, 'ich habe den Jungen doch auch in mein Herz geschlossen, er ist ein unschuldiges Kind, und wir sind selbst einmal geflüchtet, unsere Großeltern sind sogar aus Kreta gekommen, man hat uns Ungläubige genannt, Migranten, ausgeschlossen hat man uns, aber wir haben durchgehalten. Daher haben wir ja Gott sei Dank Verständnis für eine solche Situation. Wenn es doch bloß eine Lösung gäbe und wir uns um den Kleinen kümmern und ihn großziehen könnten, er ist ja auch nur ein Mensch, aber es hilft eben nichts. Die Regierung würde uns alle ins Gefängnis stecken.'"

Zülfü Livaneli hat Hemingways Novelle "Der alte Mann und das Meer" vom Anfang der 1950er-Jahre zum Vorbild genommen. In der Einleitung, einer verkürzten Passage aus dem "Roman meines Lebens", seinen Erinnerungen, berichtet Livaneli von seiner Hemingway-Leidenschaft, die ihn seit frühester Jugend begleitet. Es war so etwas wie eine Obsession.

"In unserem Haus in Ankara waren die Wände meines Zimmers mit Bildern von Ernest Hemingway bedeckt. Samstag für Samstag ging ich in die amerikanische Bibliothek, schnitt aus Magazinen wie ‚Life‘ heimlich alles aus, was irgendwie mit Hemingway zu tun hatte, trug es nach Hause und heftete es ab. (…) Hemingway vermittelte mir ein Gefühl von Freiheit."

Daran knüpft der Schriftsteller in diesem Roman an. Was ist Freiheit? Welche Bedeutung hat das Meer? Was bedeutet das Leben, die Liebe, der Tod? Wie demütig begegnet der Mensch der Allmacht der Natur? Und wie hoch ist der Preis für Unfreiheit?

Der Multikünstler Zülfü Livaneli verfasst einfach gestrickte und konventionell arrangierte Unterhaltungsliteratur mit gesellschaftskritischen Einsprengseln. Aber er berührt heikle Themen, menschliche Schicksale und Wunden in der Geschichte. Ein Roman zum Innehalten.