Buchcover: "Weiter Sehen" von Esther Kinsky

"Weiter Sehen" von Esther Kinsky

Stand: 02.06.2023, 12:00 Uhr

"Weiter Sehen" von Esther Kinsky: Am Rande Europas ein verfallenes Kino zu neuem Leben erwecken: die Schriftstellerin Esther Kinsky hat es versucht. Ihr neues Buch erzählt davon. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Esther Kinsky: Weiter Sehen
Suhrkamp Verlag, 2023.
200 Seiten, 24 Euro.

"Weiter Sehen" von Esther Kinsky

Lesestoff – neue Bücher 02.06.2023 05:51 Min. Verfügbar bis 01.06.2024 WDR Online Von Dirk Hohnsträter


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Wäre dieses Buch ein Film, es müsste im Kino laufen. Nicht auf Netflix und auch nicht auf ARTE, sondern in einem richtigen Kino, jenem Ort, den Esther Kinsky so treffend "ein Obdach mit Ausblick" nennt. Wäre Kinskys neuestes Buch "Weiter Sehen" ein Film, dann würde im Vorspann stehen: "Nach einer wahren Begebenheit".

Denn tatsächlich hat die Schriftstellerin nicht nur einige Jahre in der ungarischen Tiefebene gelebt, sondern an einem Ort an der Grenze zu Rumänien ein altes, verfallenes Kino gekauft und für kurze Zeit zu neuem Leben erweckt. Sie war, schreibt Kinsky,

"nicht überrascht, als ich kurz vor dem kleinen Fluss und dem Hauptplatz in eine Straße bog und mich vor einem sehr großen olivgrünen Gebäude wiederfand, das aus den fünfziger, vielleicht den frühen sechziger Jahren stammen musste und auf dem in einem kühnen Schriftzug groß stand: 'Mozi. Kino'. Was war natürlicher als ein großes Kino an einem gottverlassenen Ort der verirrten, verworfenen, verspielten und ausgedienten Szenen?"

Bereits in ihren Romanen "Sommerfrische" und "Banatsko" hatte Kinsky ihre Erfahrungen in Südungarn verarbeitet. Jetzt rückt das Kino ins Zentrum – das Kino als ein Ort gemeinschaftlichen Sehens:

"Ich kehrte zurück auf die andere Straßenseite und betrachte das Gebäude eingehend. Es sah riesig aus für den kleinen Ort. Ein Prachtkino in einem Niemandsland der Möglichkeiten."

Fast ist es schade, dass der Band auch Fotos enthält. Denn Kinskys präzise Beschreibungskunst vergegenwärtigt das flache, leere Land so genau, dass wir keine Belege mehr brauchen. Eindrücklich führt sie uns eine abgehängte Gegend vor Augen. Hier, wo Mangel, Gleichförmigkeit und Aussichtslosigkeit herrschen, könnte das Kino Sehen und Anders-Sehen ermöglichen. Warum nur, lautet die Leitfrage dieses Buches, warum nur hat es ausgedient?

"Je weiter sich die Privatisierung aller Erfahrungen ins Leben frisst, desto märchenhafter erscheint ein Ort, an dem die Seherfahrung kollektiv war, wo Witz, Schrecken, Entsetzen und Erleichterung ihren gemeinschaftlichen Ausdruck fanden, ohne dass die Anonymität im dunklen Raum angegriffen wurde."

Kinskys Buch ist eine Liebeserklärung an das europäische Kino, an die großen Kinostädte des 20. Jahrhunderts, Paris, Berlin, Wien und Budapest, in denen das vormals Alltägliche immer mehr zu einem sterilen Lifestyle-Luxus geworden ist. Es führt uns zurück in das Budapest der 20er-Jahre, in die Tiefebene der 50er. Die Autorin erinnert sich an ihr Aufwachsen mit dem Kino, daran, was ihr das Kino als junger Mensch einmal war.

"Sehen ist eine Fertigkeit, die man erlernt. Eine Fähigkeit, derer man sich langsam bewusst wird. Wenn man will. Am Anfang ist immer der gerahmte Blick. Aus dem Drinnen ins Draußen, aus dem Fenster, dessen Ausschnitt dem Hinausblickenden die Welt bestimmt. Dann die Entdeckung der Differenz zwischen dem Anblick der Dinge aus dem Fenster und dem derselben Dinge im Draußen, umringt von ungerahmter Welt, das Auge selbst ein Teil der Welt."

Räumlicher Rahmen und blicköffnender Ort – das kann der Zuschauerraum sein, und nur er. An einem Ort, in den kaum jemand freiwillig ziehen würde, versuchte Esther Kinsky einen solchen Raum zu neuem Leben zu erwecken. Sie berichtet von ihren Mühen und Zweifeln. Und beginnt zu verstehen, warum etwas, das doch eigentlich gut war und nun fehlt, nicht wieder herstellbar ist, und sei es nur, weil die Beteiligten dann allzu deutlich spüren würden, dass ihnen ein Stück des eigenen Lebens abhandengekommen ist.

"Auf Schritt und Tritt weckte diese mir völlig unbekannte Landschaft und Gegend Erinnerungen oder vielmehr Bilder, die aus einem tiefen Fundus emporstiegen, wo etwas abgelegt war, was ich gesehen und nicht unbedingt erlebt hatte, aus Filmen, Büchern, alten Fotoalben. (…) Die Bilder werden zu Erinnerungen, gruppieren sich um im Gedächtnis, bekommen ihre eigene Wertigkeit, werden."

"Weiter Sehen" ist ein Buch, das macht, wovon es spricht: Es lässt uns die Welt mit anderen Augen sehen. Man lernt aus diesem Buch: über Ungarn, über das Kino, über das Sehen. Und fühlt mit, wenn für einen kurzen, glücklichen Augenblick, nur ein paar Minuten lang, endlich, die Probevorführung gelingt:

"Es war ein großer Moment. Größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. (…) All meine Zweifel an dem Vorhaben schwanden im Angesicht der bewegten Bilder auf der glatt gespachtelten weißen Stirnwand, die ihrer Aufgabe gerecht wurde. Der aufgegebene, verwaiste Kinosaal war mit einem Schlag der dunkle Raum, dem man sich überlassen wollte, um zu sehen und weiter zu sehen, der Wunderkubus mit seiner eigenen Zeitrechnung."