Buchcover: "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" von Karl Ove Knausgård

"Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" von Karl Ove Knausgård

Stand: 21.02.2023, 12:00 Uhr

Jenseits der Vorstellung: Karl Ove Knausgårds neues Buch "Die Wölfe der Ewigkeit" ist ein fesselnder Bildungs-, Liebes- und Ideenroman, der die Grenzen des Genres neu auslotet. Eine Rezension von Andrea Gerk.

Karl Ove Knausgård: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand, 2023.
1056 Seiten, 30 Euro.

"Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" von Karl Ove Knausgård

Lesestoff – neue Bücher 21.02.2023 06:53 Min. Verfügbar bis 21.02.2024 WDR Online Von Andrea Gerk


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Lange vor dem Morgenstern

"In der Ferne brannte der Wald. Kein Wunder nach diesem Sommer. Im nächsten Moment begriff ich, dass es kein Feuer war, denn es stieg höher. Es sah fast so aus, als ginge die Sonne wieder auf. Was in aller Welt war das?"

Fast am Ende dieses mehr als tausendseitigen Romans, taucht er auf: Der titelgebende Morgenstern, der im ersten Teil von Knausgårds großem Erzählprojekt, alles, was auf Erden geschieht, buchstäblich in ein anderes Licht getaucht hatte.

Doch bis dahin muss viel geschehen, denn dieser zweite Teil beginnt nun lang davor, im Jahr 1986 in Südnorwegen. Der 19-jährige Syvert ist vom Militärdienst zu seiner Mutter und dem kleinen Bruder zurückgekehrt, ins Haus der Familie. Im fernen Tschernobyl ist ein Atomreaktor explodiert:

"Es brannte noch darin, und sie versuchten, das Feuer mit Sand zu löschen, hieß es. Die Hubschrauber warfen eine Ladung nach der anderen über dem Gebäude ab. Ein Brand, der sich nicht löschen ließ. War es so nicht in der Hölle?"

Die große Frage nach dem Tod

Wie schon im ersten Teil von Knausgårds neuem Romanprojekt "Der Morgenstern" geht es auch in "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" um die großen Menschheitsfragen: Um Religion, Schuld, um Liebe und vor allem um den Tod.

Denn Syvert träumt immer wieder von seinem toten Vater und glaubt deshalb, dieser wolle ihm etwas mitteilen. Deshalb versucht er, mehr über ihn zu erfahren. In der Garage findet er alte Unterlagen, darunter Liebesbriefe einer russischen Frau, für die der Vater offenbar die Familie verlassen wollte.

Das Rätsel des Lebens

Es stellt sich heraus, dass Syvert in Russland eine Halbschwester hat: Alevtina ist Biologin und dem Rätsel des Lebens auf der Spur. Sie forscht über Bäume, Pilze und die Kommunikationswege des Waldes.

Ihre alte Freundin, die Lyrikerin Vasilisa wiederum, schreibt ein Buch, in dem sie den Überlegungen eines russischen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert – Fjodorow – nachgeht, zur Idee des ewigen Lebens:

"'Der Gedanke ist, dass die Ewigkeit begonnen hat. Das ist es, was sich verändert hat. Die Zukunft ist verschwunden, und die Ewigkeit hat begonnen. Was du Politik genannt hast, ist folglich zu dem geworden, was du Religion genannt hast, in dem Sinn, dass sie das Unveränderliche verwaltet. Und auf die Unsterblichkeit wartet.' 'Die Unsterblichkeit?' 'Ja. Nicht nur die Kirche spricht vom ewigen Leben. Die Wissenschaft tut das auch.'"

Die Wahrnehmung unserer selbst und der anderen

Wie bereits in "Der Morgenstern" erzählt Knausgård aus der Perspektive der verschiedenen Figuren und zieht einen durch seine präzisen, wie in Zeitlupe zerdehnten Beobachtungen, immer tiefer hinein in deren Gefühlslagen und Beziehungsgefüge.

Denn auch wenn es um komplexe Themen geht und sogar ein theoretisches Essay von Vasilisa in die Handlung eingeschoben wird, handelt es sich keineswegs um einen blutleeren Ideenroman. Dazu ist Knausgård ist ein viel zu guter Erzähler. Selbst wenn er die banalsten Dinge beschreibt, wie die Zubereitung einer Mahlzeit oder einen Toilettengang, scheint die Frage durch, was das Leben im Kern ausmacht. Und es geht in einem tiefen Sinn um Wahrnehmung unserer selbst und der anderen:

"Plötzlich sah ich sie, wie sie war. Nicht als 'Mutter', sondern als eine Frau Mitte vierzig. Das Gesicht, die Falten um den Mund und auf der Stirn, die Mundwinkel, die begonnen hatten, nach unten zu zeigen. Ihren Körper, den leicht gebeugten Rücken, die langen und schlanken Finger, die immer noch das Glas hielten."

Ein beeindruckendes und fesselndes Projekt

Indem er selbst im Nebensächlichen den großen Menschheitsfragen nachzuspüren scheint, erzeugt Knausgård jene "hypnotische Erzählweise", die schon an seiner autofiktionalen Romanreihe diskutiert und gerühmt wurde.

Am Ende von "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" taucht – wie gesagt – der Morgenstern auf und es sterben einige Tage lang keine Menschen mehr. Wie diese unerklärlichen Ereignisse mit dem Leben der Figuren und mit den Fragen unserer aller Existenz zusammenhängen, darauf darf man gespannt sein, wenn im kommenden Jahr die Fortsetzung dieses Romans erscheint.

Ein beeindruckendes und fesselndes Projekt, mit dem Knausgård nicht nur in Bezug auf den Umfang und die Mischung von Textsorten sämtliche Grenzen des Genres so souverän wie virtuos aushebelt.