Buchcover: "Holly" von Stephen King

"Holly" von Stephen King

Stand: 20.09.2023, 07:00 Uhr

Der Meister des übernatürlichen Horrors zeigt sein Können im Krimifach. Privatermittlerin Holly Gibney kommt einem wahnsinnigen Professorenpaar auf die Spur, das Menschenfleisch als Jungbrunnen für sich entdeckt hat. Eine Rezension von Ferdinand Quante.

Stephen King: Holly
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt.
Heyne, 2023.
640 Seiten, 28 Euro.

"Holly" von Stephen King

Lesestoff – neue Bücher 20.09.2023 05:57 Min. Verfügbar bis 20.09.2024 WDR Online Von Ferdinand Quante


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Der Käfig im Keller

Der Wahnsinn ist fest umschlossen, von Mauern eines im viktorianischen Stil erbauten Hauses im gediegensten Viertel der Stadt. Dort lebt das alte Professorenehepaar Harris. Besucher empfangen die beiden nur selten. Emily und Roddy sind vorsichtig.

Den stählernen Käfig in ihrem Keller darf nie jemand zu Gesicht bekommen, erst recht nicht, wenn sie dort ein neues Opfer eingesperrt halten. Diesmal ist es eine junge Frau, Bonnie Dahl. So wie alle anderen vor ihr wird sie von Roddy gefüttert.

"Er schiebt die Leber mit dem Besen durch die Klappe. Dahl zögert keinen Augenblick. Sie ergreift das rohe Fleisch, beißt hinein und reißt ein Stück ab. Dann kaut sie. Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken."

Ein besonderer Jungbrunnen

Menschenfleisch ist wie ein Jungbrunnen, das glaubt der promovierte Ernährungswissenschaftler Roddy felsenfest. Im Kühlschrank der Harris lagern stets Portionen für den täglichen Gebrauch – die leiblichen Reste von fünf Menschen, die das kannibalische Paar über die Jahre für sich zubereitet hat.

Das Böse im Alltag des Bildungsbürgertums

Stephen King ist bekannt als Meister des Supernatural Horrors. Viele seiner monströsen Romanfiguren fallen mit übernatürlichen Fähigkeiten in das Leben der US-amerikanischen Mittelklasse ein, in seinem neusten Werk ortet King das Böse jedoch im scheinbar banalen Alltag des Bildungsbürgertums.

"Holly" ist ein Krimi, der die Täter gleich zu Anfang benennt und ihr mörderisches Treiben in Rückblenden schildert, wobei King die Schlachtungen der jungen Männer und Frauen dezent ausspart. Pornografische Details sind nicht seine Sache, wohl aber der Wahnsinn des äußerlich jovialen Pärchens sowie das Grauen und die Angst der Opfer im Käfig, die als düsterer Schleier die gesamte Geschichte durchdringen.

Privatermittlerin Holly Gibney

Wahn und Horror sind hier freilich nicht alles, und nicht einmal das Wichtigste, denn im Fokus steht eindeutig die titelgebende Privatermittlerin Holly Gibney und ihr wundersam zwiespältiges Wesen. Man kennt sie aus früheren King-Romanen, eine so scheue wie einfühlsame Frau, ängstlich im alltäglichen Umgang mit anderen, aber unnachgiebig, wenn es ein Verbrechen aufzuklären gilt.

"Holly ist souveräner als früher – sie ist ruhiger, emotional stabiler, macht sich weniger Selbstvorwürfe –, leidet jedoch immer noch an einem niedrigen Selbstwertgefühl und an Unsicherheit. Das mögen Charaktermängel sein, aber sie haben paradoxerweise einen Vorteil – sie wird dadurch zu einer besseren Ermittlerin. Momentan ist sie sich beispielsweise darüber im Klaren, dass ihre Annahmen über den Fall völlig falsch sein könnten, aber ihr Bauchgefühl sagt ihr, dass sie richtig liegt."

Eine spannungsreiche Mischung

Er habe sie von Anfang an geliebt und sie wieder begleiten wollen, schreibt Stephen King im Nachwort zum Roman. Und ja, man spürt diese Liebe in jeder Zeile. Hollys Kampf gegen Selbstzweifel und Schwermut, die Trauer um ihre jüngst an Covid gestorbene Mutter, die ihre Tochter doch immer so hartnäckig kleingemacht hat, dass das Echo ihrer Schmähungen dauerhaft in Holly nachhallt – King erzählt davon mit derselben Genauigkeit und Hingabe, mit der er Holly bei ihrer akribischen Spurensuche und dem Mörderduo in dessen trauter Zweisamkeit folgt.

Eine spannungsreiche Mischung, angereichert durch ein mit feinen Tupfern gezeichnetes Bild einer durch Corona und Trumps Präsidentschaft zerrissenen amerikanischen Gesellschaft, und wären die Menschenfresser nicht, man könnte glatt sagen: ein schöner Roman.