Buchcover: "Der letzte Sessellift" von John Irving

"Der letzte Sessellift" von John Irving

Stand: 12.05.2023, 12:00 Uhr

Liebe, Tod und Gespenster – "Der letzte Sessellift" von John Irving ist ein flirrendes Gesellschaftspanorama und ein packendes Plädoyer für Toleranz und Freiheit. Eine Rezension von Andrea Gerk.

John Irving: Der letzte Sessellift
Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg.
Diogenes, 2023.
1088 Seiten, 36 Euro.

"Der letzte Sessellift" von John Irving

Lesestoff – neue Bücher 12.05.2023 05:29 Min. Verfügbar bis 11.05.2024 WDR Online Von Andrea Gerk


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"Es gibt mehr als nur eine Art, jemanden zu lieben"

…sagt die Ski-Pistenpflegerin Molly zu Adam auf der Hochzeit seiner Mutter Little Ray, nachdem der Junge die beiden Frauen beim Sex überrascht hat. Schon da beginnt ihm zu dämmern, dass die Ehe mit dem "kleinen Englischlehrer" Mr. Barlow, der ihm ein fantastischer Stiefvater sein wird, auf einer anderen Art von Liebe beruht als die zwischen den beiden Frauen.

Oder auch als die Liebe, die seine Mutter, für ihn – ihr ‚Ein und alles‘ – empfindet. Oder jene Leidenschaft, die er selbst Jahre später für die lesbische Em, die stumme Partnerin seiner Tante Nora hegt. Ein einziges Durcheinander? Genau wie im wirklichen Leben eben, das John Irving in all seinen Facetten in diesem großartigen Roman schillern lässt:

"In der Erinnerung an die Winter meiner Kindheit und frühen Jugend war meine Großmutter meine Mutter. Nana, so nannte ich Mildred Brewster, war meine Winter-Mom. Sie war die hingebungsvollste Fürsprecherin meiner Mutter, und für eine Weile auch die einzige, wie mir schien. 'Niemand bittet darum, geboren zu werden', hörte ich Nana oft sagen, dann rollten die schnaufenden Tanten Abigail und Martha mit den Augen und schnauften noch schwerer. 'Jetzt geht das mit dem Walfänger wieder los', flüsterte mir Tante Martha ins Ohr, 'wäre er doch nur an uns vorbeigesegelt.'"

Adams Großmutter, die englische und amerikanische Literatur studiert hat, liest dem Jungen "Moby Dick" vor und legt damit den Keim für sein späteres Schriftsteller-Leben. Es geht nämlich nicht nur um verschiedene Liebesgeschichten in diesem Buch, sondern auch um die Liebe zur Literatur, um Filme und Drehbücher; es geht um alleinerziehende Mütter, abwesende Väter, ums Skifahren, um Gespenster, ums Ringen und um ein Hotel in Aspen. Alles Motive, über die sich Irving-Fans freuen können, weil sie wie ein Echo aus vielen seiner anderen Romanen hier anklingen.

Aber "Der letzte Sessellift" ist nicht etwa ein abgeklärter Wiederaufguss aus dem Lebenswerk eines "alten weißen Mannes". Dieses Buch ist ein brandaktueller und in seiner ganzen epischen Breite flirrender politischer Gesellschaftsroman. Denn der 81-jährige Irving, der seit langem in Kanada lebt und auch die kanadische Staatsbürgerschaft angenommen hat, erzählt darin, wie sich das geistig-moralische Klima in den USA über Jahrzehnte entwickelt hat. Er erzählt von Aids und von der Homophobie, mit der in den 80er-Jahren auf die Epidemie reagiert wurde und von einem Klima schlimmster Intoleranz:

"Ich war neununddreißig Jahre alt, als Ronald Reagan Ende Januar 1981 der vierzigste Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Die liebevollsten und meistgeliebten Menschen in meinem Leben waren zwei lesbische Paare und die Transfrau, die mein Stiefvater war."

Den Hass der Reagan-Zeit werden einige dieser geliebten Menschen nicht überleben. Denn wie immer bei Irving geht es auch um Verlust und Trauer und um die seltsamen Wege, wie man damit weiterleben kann und – wie man seine ganz eigene „Poetik“ daraus entwickeln kann:

"'In Ihren Büchern wird Schlimmes immer noch schlimmer – nicht wahr?', fragte Arthur Barrett. 'Sie treiben immer alles auf die Spitze, in Sachen Politik oder Gewalt oder Sex', sagte er. 'Liegt das nur daran, dass Sie eine, wie meine Tochter es nennt, 'katastrophenanfällige Fantasie‘ haben, oder glauben Sie, dass das die Wirklichkeit ist? Dass nur in solchen Extremsituationen unser wahres Ich zum Vorschein kommt?'"

Unvergesslich sind viele der eigenwilligen Figuren, die in diesem breitangelegten Gesellschaftspanorama auftreten: Etwa Adams absurd gut aufgelegte norwegische Onkel Martin und Johan. Oder seine Tante Nora, die mit ihrer stummen Partnerin Em in einem New Yorker Comedy-Club die sexuellen und politischen Irrungen und Wirrungen der USA pointenreich aufs Korn nimmt. Es macht Spaß diesen überbordenden, ausufernden Roman zu lesen, weil man spürt, welche Freude es John Irving bereitet haben muss, seine Lebensthemen einmal mehr und doch auf neue Art in die Hand zu nehmen und mit ihnen zu jonglieren:

"Es gibt einen Grund, warum wir Romane schreiben. Das wahre Leben ist zum Kotzen. Unser Geschäft ist die Fantasie"

…sagt Adam einmal zu seiner geliebten Em und man mِöchte diesem Alter Ego von John Irving erwidern, wie dankbar wir ihm für sein literarisches Geschäftsmodell sind, weil es so unbezahlbar wie unvergleichlich ist.