Hörbuchcover: "Schattenzeit" von Oliver Hilmes

"Schattenzeit" von Oliver Hilmes

Stand: 26.01.2023, 12:00 Uhr

Oliver Hillmes gestaltet ein historisches Panorama der 1930er und 40er Jahre, mit vielen Originaldokumenten von Karlrobert Kreiten, Thomas Mann über Victor Klemperer bis Sophie und Hans Scholl. Fast sieben Stunden folgt man gebannt dem Sprecher Julian Mehne in diese "Schattenzeit". Eine Rezension von Christian Kosfeld.

Oliver Hilmes: Schattenzeit
Ungekürzte Lesung mit Julian Mehne.
Der Audio Verlag, 2023.
1 MP3 CD, 24 Euro.

"Schattenzeit" von Oliver Hilmes

Lesestoff – neue Bücher 26.01.2023 05:14 Min. Verfügbar bis 26.01.2024 WDR Online Von Christian Kosfeld


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Ein virtuoser Klavier-Star

Karlrobert Kreiten galt als Jahrhunderttalent, wurde gefeiert und bejubelt. Er stammte aus einer holländisch-deutschen, musikalischen Familie in Bonn, studierte in Wien und wurde 1937 Meisterschüler des legendären Claudio Arrau in Berlin. Ein Klavier-Star: jung, gutaussehend, virtuos:

"Schnell fasst Karlrobert im Berliner Musikleben Fuß, seine jährlichen Klavierabende in der Philharmonie sind stets ausverkauft. Wenn er sich an den Flügel setzt und mit atemberaubender Virtuosität Franz Liszts Klaviersonate h-Moll, akrobatische Stücke von Igor Strawinsky oder Sergej Prokofjews diabolische Toccata über die Tasten wuchtet, liegen ihm das Publikum und anderntags das Feuilleton zu Füßen. Neben seinem musikalischen Können kommt ihm dabei auch sein attraktives Äußeres zugute: Mit dem dezent gelockten Haar und der modischen Hornbrille sieht er aus wie ein Filmstar der Ufa. Nicht wenige junge Frauen himmeln ihn regelrecht an."

Verraten und verurteilt

Doch nach kritischen Äußerungen wurde Kreiten 1943 von einer Freundin der Mutter denunziert, verurteilt und ermordet. "Schattenzeit – Alltag und Abgründe" hat der Berliner Autor und Musikwissenschaftler Oliver Hillmes sein Sachbuch genannt, das jetzt auch als Hörbuch mit Julian Mehme bei DAV erschienen ist.

Kreitens Schicksal steht im Zentrum. Doch Hillmes lässt auch Zeitgenossen zu Wort kommen: Thomas Mann, den Romanisten Victor Klemperer, Erich Kästner, Feldpostbriefe von Soldaten, aber auch ganz alltägliche, fast banale Dokumente, wie die Modezeitschrift "Die Dame":

"Nachdem Die Dame ihren Leserinnen Anfang des Jahres das Tragen von Jäckchen empfohlen hat, werden in der folgenden Ausgabe die Vorzüge 'leichter Blüschen' hervorgehoben. 'Ein hübsches Blüschen zu einem Rock ersetzt oft ein neues Kleid und kann zudem manches Mal noch aus einem nicht mehr brauchbaren Kleid hergestellt werden, sodass es keine Punkte erfordert.'"

Von Mitläufern und Menschen im Widerstand

Hillmes fächert ein vielstimmiges Panorama der 1930er und 40er Jahre auf. Er erzählt von Mitläufern und Menschen, die Widerstand geleistet haben. Alltägliche Ereignisse und Propaganda stehen neben erschütternden Momenten, wie den Erlebnissen des späteren TV Entertainers-Hans Rosenthal in seinem Versteck, oder Augenzeugenberichte vom Prozess gegen Sophie und Hans Scholl:

"'Was wir schrieben und sagten, das denken Sie alle ja auch, nur haben Sie nicht den Mut, es auszusprechen.' Daraufhin herrscht betretenes Schweigen, selbst Freisler scheint von dieser Antwort völlig überrascht zu sein. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Der zufällig anwesende Jurastudent Leo Samberger beschreibt später, wie tief ihn so viel Courage ergriffen hat: 'Da standen Menschen, die ganz offensichtlich von ihren Idealen erfüllt waren. Ihre Antworten auf die teilweise unverschämten Fragen des Vorsitzenden [...] waren ruhig, gefasst, klar und tapfer.'"

Spannend und empathisch gelesen

Julian Mehme interpretiert "Schattenzeit" sehr zurückhaltend, dennoch spannend. Immer wieder ist auch seine Empathie hörbar. Etwa in dem Streit mit einer glühenden Hitler-Anhängerin, der Karlrobert Kreiten zum Verhängnis wird:

"Noch bevor Frau Ellen antworten kann, fährt er fort: 'Ein zweiter Weltkrieg bedeutet für Deutschland den Untergang.' Der Krieg werde noch in diesem Sommer beendet, behauptet Ellen Ott-Monecke stattdessen, was Karlrobert umso mehr provoziert. 'Ja, der Krieg ist zu Ende; denn in zwei bis drei Monaten bricht die Revolution in Deutschland aus.' Plötzlich springt er auf und zeigt auf das Hitler-Porträt, das in dem Zimmer hängt. 'Ich kann Ihnen nur raten, nehmen Sie die Führerbilder von den Wänden, denn sonst haben Sie große Unannehmlichkeiten.'"

Zwischen Balance und Nähe

Hillmes berichtet auch davon, wie der Fall Kreiten juristisch nicht aufgearbeitet wurde, allerdings durch einen Artikel des SPIEGEL in die bundesdeutsche Öffentlichkeit gelangte. Fast sieben Stunden folgt man gebannt dem Sprecher Julian Mehme, dem es ihm gelingt, die richtige Balance von Distanz und Nähe zu finden. Ein Hörbuch, das nachklingt.