Buchcover: "Das glückliche Geheimnis" von Arno Geiger

"Das glückliche Geheimnis" von Arno Geiger

Stand: 31.01.2023, 12:00 Uhr

Vom Glück im Abfall zu wühlen: Der Erfolgsschriftsteller Arno Geiger hat jahrelange ein Doppelleben geführt und Wiener Mülltonnen durchsucht. Nun lüftet er sein Geheimnis und erzählt davon, wie ihn gefundene Briefe und Tagebücher mit einer tiefen Menschenkenntnis bereichert haben. Eine Rezension von Holger Heimann.

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis
Hanser Verlag, 2023.
238 Seiten, 25 Euro.

"Das glückliche Geheimnis" von Arno Geiger

Lesestoff – neue Bücher 31.01.2023 05:11 Min. Verfügbar bis 31.01.2024 WDR Online Von Holger Heimann


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Mit blauen Flecken, verschwitzt und dreckig kommt er regelmäßig von seinen Touren durch Wien zurück. Arno Geiger hat als angehender Schriftsteller damit begonnen, die Altpapiercontainer der Stadt nach Brauchbarem zu durchwühlen. An glücklichen Tagen bringt er neben Blessuren auch Bücher, Briefe, Tagebücher und Drucke mit in seine Wohnung. Die Streifzüge, zu denen er eher zufällig gekommen ist, bescheren ihm ein einträgliches Nebeneinkommen: Er verkauft einen Teil seiner Beute auf Trödelmärkten. Zugleich kommt er so zu Lesestoff. In seinem neuen Buch erzählt er davon und lüftet sein "glückliches Geheimnis".

"Das Auswählen zählt zu den großen Schwierigkeiten des Vorgangs. In manches schaue ich hinein, weil man das Ohrgehänge einer Königin und billiges Schaumgold nicht immer auf den ersten Blick unterscheiden kann. Briefe und Tagebücher nehme ich fast immer. Aus hundert Büchern nehme ich meistens nur zehn, oft nur vier oder fünf."

Briefe und Tagebücher von Menschen, die das Schreiben nicht zu ihrem Beruf gemacht haben, sind es, die Arno Geiger vor allem sucht und verschlingt – in riesigem Umfang. In der heimischen kleinen Wohnung wächst der Papierberg beständig an. Geiger erzählt mit großer Offenheit und schöner Direktheit davon, wie er durch diese Lektüren geprägt und zu einem Schriftsteller mit einem außergewöhnlichen Erfahrungsraum wird. Denn seine Runden verschaffen ihm Zugang zu fernen und ihm fremden Bezirken menschlichen Lebens.  

"Ich nehme für mich eine äußerst handfeste Menschenkenntnis in Anspruch und führe sie unter anderem darauf zurück, dass ich bei Hinz und Kunz durch die Schule gelaufen bin. Ich kenne Glück und Kummer aus zwei Jahrhunderten und bin, glaube ich, weniger überrascht als andere, wie merkwürdig die Menschen sind. Früher hätte ich an diesem Punkt gesagt, mir sei nichts Menschliches fremd. Heute liegt es für mich näher zu sagen: Mir ist das eine Menschliche nicht fremder als das andere."

Das größte Tagebuchkonvolut, das er gefunden hat, 35 Bände, sei für ihn wichtiger gewesen als die Lektüre von Proust "Recherche", schreibt Arno Geiger. Sein vom Bemühen um Aufrichtigkeit angetriebenes, außerordentliches autobiografisches Buch gibt Auskunft über seinen Weg als Schriftsteller, aber ebenso über sein Leben fern vom Schreibtisch. Er erzählt von seinen Eltern und von Beziehungen zu Frauen. Man gewinnt den Eindruck, dass hier nichts, aber auch gar nichts versteckt und verheimlicht werden soll, sondern noch das Intimste mit großer Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit zur Sprache kommt. Geiger berichtet von der Existenzangst, die ihn lange begleitet und schließlich vom großen Erfolg, der ihn rastlos macht und an den Rand des Zusammenbruchs bringt. Er erinnert sich an Liebesbeziehungen, die zuletzt nur noch dazu getaugt haben, etwas zu lernen, nicht aber, um glücklich zu sein. Und er erzählt davon, wie es sich anfühlt, in eine Liebe hineinzuwachsen.

"Zimperlich waren wir beide nicht. Dass mir K. nichts schuldig geblieben ist, macht es auch mir leichter. Doch der Hauptgrund, weshalb K. und ich heute darüber lachen, ist der, dass wir seit bald fünfzehn Jahren auf eine fast unzulässige Weise glücklich sind. So werden die schlechten Jahre rückblickend zur Episode."

Arno Geiger hat seine Wiener Runden beibehalten – auch dann noch, als er längst ein erfolgreicher und gefeierter Autor war. So führte er ein Doppelleben der besonderen Art: auf der einen Seite der Stadtstreicher, Vagabund und Lumpensammler – auf der anderen Seite die öffentliche Person im Rampenlicht.

"Ich hatte jetzt einen Namen und ein Gesicht, und mir war klar, manche Dinge kann man nicht fortsetzen ab dem Moment, in dem die Zeitungen darüber schreiben – mit Paparazzi-Fotos von meinen Beinen, die aus einer Abfalltonne ragen. Ich fürchtete mich weiterhin davor, dass ich bloßgestellt wurde, gleichzeitig wuchs meine Gelassenheit."

Nun hat Arno Geiger also sein „glückliches Geheimnis“ verraten. Denn auch im Sich- Offenbaren liegt eine Freiheit. Seinen Lesern macht er so ein großes Geschenk. Doch was, so fragt er am Ende, wenn seine Runden die entscheidende Inspirationsquelle für ihn als Schriftsteller waren und diese nun versiegt ist. Eine Antwort darauf hat er nicht. Womöglich braucht er nicht weniger als ein neues Geheimnis.