"Jahr der Wunder" von Louise Erdrich

Stand: 19.05.2023, 12:00 Uhr

Die indigene Tookie, Heldin des neuen Romans "Jahr der Wunder" von Louise Erdrich, muss es nicht nur mit einem Geist, sondern auch noch mit ihrer eigenen Vergangenheit, der Pandemie und einer chaotischen Gegenwart aufnehmen. Nicht zuletzt sind es Bücher, Geschichten und Sätze, die sie retten. Und die Kraft einer lebendigen Community. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Louise Erdrich: Jahr der Wunder
Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder.
Aufbau Verlag, 2023.
462 Seiten, 26 Euro.

"Jahr der Wunder" von Louise Erdrich Lesestoff – neue Bücher 19.05.2023 05:42 Min. Verfügbar bis 18.05.2024 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer

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Louise Erdrichs neuer Roman "Jahr der Wunder" beginnt als Komödie, die kurz darauf in eine Tragödie umschlägt: Tookie, in ihren 30ern, mental aber ein etwas labiler Teenager, hilft einer angebeteten Freundin dabei, die Leiche von deren Ex-Partner zu entführen, eine fast slapstickhafte Aktion. Was sie nicht weiß: Der Tote wird als Transportmittel für Drogen missbraucht, das Ganze fliegt auf und Tookie muss ihre naive Hilfsbereitschaft ausbaden – und wieder einmal lernen, dass sie blöderweise auch noch die falsche Hautfarbe hat.

"[Der Richter] sprach von der Unantastbarkeit und heiligen Würde der Toten und wie hilflos sie den Lebenden ausgeliefert seien. (…) Außerdem ist da die Statistik. Ich stand statistisch auf der falschen Seite. Indigene sind in amerikanischen Gefängnissen die am stärksten überrepräsentierte Bevölkerungsgruppe."

60 Jahre lautet das Urteil – the sentence, wie es im Englischen und wie auch Erdrichs Buch im Original heißt. The sentence aber bedeutet natürlich auch "Satz" – und von Sätzen kann Tookie nicht genug bekommen. Die Gefängnisbibliothek wird zu ihrem Eldorado. Als sie nach zehn Jahren begnadigt wird, fügt sich alles aufs Wundersamste: Mit Pollux, dem Stammespolizisten, der sie einst verhaftet hat, tritt die Liebe in ihr Leben. In der Buchhandlung Birchbark in Minneapolis, die sich auf indigene Literatur spezialisiert hat, findet sie nicht nur eine Stelle, sondern auch eine Heimat. Und selbst Hetta, die bislang sehr distanzierte Tochter von Pollux, wird plötzlich handzahm. Es könnte also alles perfekt sein.

Aber dann geschehen drei Dinge, die vielleicht auf merkwürdige Weise in einem Zusammenhang stehen: Flora, eine nervige Stammkundin des Ladens, die fast wie eine "Stalkerin" allem Indigenen verfallen ist und sich selbst eine indigene Abstammung herbeifantasiert, stirbt und spukt fortan als Geist zwischen den Regalen herum. Das erscheint wie ein böses Omen: Kurz darauf bricht nämlich die Corona- Pandemie aus, und der Schwarze George Floyd wird von Polizisten auf der Straße von Minneapolis umgebracht, was zu tagelangen Unruhen führt. Tookie fühlt sich mit einem Fluch belegt, von dem auch die uralten Riten der Ojibwe sie zunächst nicht heilen können.

"In der Welt ringsum beruhigte sich die Lage kein bisschen – alles war ins Straucheln geraten. (…) Wir fühlten uns, als der Herbst und die Wahlen näherrückten, als ob wir den Hang hinab einer ungewissen Zukunft entgegenrutschten (…). Unter einem Leichentuch schleppte sich unser Land dahin, untermalt von einem ständigen Grundrauschen der Panik."

Auch Floras Geist lässt nicht von Tookie ab, so wenig wie die Gespenster der Vergangenheit sie in Frieden lassen – weder das Gefängnis noch ihre drogensüchtige Mutter oder das Schicksal ihre Vorfahren. Das Chaos nimmt zu. Die existentiellen Sorgen auch. Und doch schafft es Louise Erdrich, dieser Katastrophenzeit eine hoffnungsvolle Tönung zu geben. Die Buchhandlung samt eigensinniger Mitarbeiterinnen und Kunden bleibt ein Kraftzentrum, das auf die Umgebung abstrahlt. Erdrich erschafft wunderbare Charaktere, launisch und stark, kauzig und überraschend, und selbst die Nebenfiguren wachsen einem beim Lesen ans Herz.

„Jahr der Wunder“ ist eine Feier der Literatur, der Familie und der Community, und eine Chronik der unmittelbaren Gegenwart. Erdrich verschmilzt wie auch schon in vorangegangenen Jahren Übersinnliches mit einem sehr konkreten Sinn für die komplexe Realität – gerade von Native und Black Americans; Fragen nach Identität und kultureller Aneignung spiegeln sich in der untoten Flora und ihrer am Ende durchaus tragischen Geschichte. Indigenes Leben und Rassismus, Ritus und Rationalität, Wunderglaube und Medizin: Das alles bringt Erdrich in einem zutiefst menschenfreundlichen Roman zusammen, in dem sich die Autorin übrigens selbst mit einer kleinen Nebenrolle hineingeschrieben hat. Es ist ein Buch, das bei allen Verunsicherungen ins Offene weist:

"Geister bringen Elegien und Epitaphe mit sich, aber auch Zeichen und Wunder. Was kommt als Nächstes? Ich will es wissen, also strecke ich mich und ziehe das Wörterbuch zu mir heran. Ich brauche ein Wort, einen Satz. Die Tür ist offen. Geh."

Selbst im Anhang des Romans finden wir noch eine offene Tür: eine Literaturliste mit Tookies Lieblingsbüchern oder Werken über indigenes Leben. Nach der Lektüre von "Jahr der Wunder" möchte man sofort in den nächsten Buchladen gehen und eine Buchhändlerin wie Tookie kennenlernen.