Buchcover: "Rezitativ" von Toni Morrison

"Rezitativ" von Toni Morrison

Stand: 31.03.2023, 12:00 Uhr

Toni Morrisons einzige Kurzgeschichte "Rezitativ" ist ein kleines Meisterwerk: Eine Geschichte über Identität, Rassen, Vorurteile und ein kluges Verwirrspiel. Eine Rezension von Simone Hamm.

Toni Morrison: Rezitativ
Aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Handels.
Rowohlt, 2023.
92 Seiten, 20 Euro.

"Rezitativ" von Toni Morrison

Lesestoff – neue Bücher 31.03.2023 05:54 Min. Verfügbar bis 30.03.2024 WDR Online Von Simone Hamm


Download

Zwei Mädchen im Waisenhaus

"Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, die von Roberta war krank. Darum wurden wir nach St. Bonny’s gebracht."

So fängt Toni Morrisons Kurzgeschichte "Rezitativ" an. Was für ein Anfang! All die Tragik, all das Leid in zwei kurze knappe Sätze gepackt. Zwei Mädchen im Waisenhaus, die gar keine Waisen sind. Twyla erzählt fünf kleine Episoden aus ihrem und Robertas Leben.        

"Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt zu werden – aber dann noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe! "

Besuch der Mütter

Wer aber welche Hautfarbe hat, das verrät Toni Morrison nicht. Genauso wenig wie später in ihrem Roman "Paradies". Die beiden Mädchen im Waisenhaus sind sich nicht gerade gewogen, finden aber zueinander, weil sie die einzigen Nichtwaisenkinder sind.  28 Tage sind sie im Heim, da kommen an einem Sonntag die beiden Mütter zu Besuch.

"Ich dachte mir, wenn meine tanzende Mutter Robertas kranke Mutter kennenlernte, würde ihr das vielleicht guttun. Und Roberta dachte sich, ihre kranke Mutter würde bestimmt großen Spaß an einer tanzenden haben."

Aber weit gefehlt. Robertas Mutter trägt ein riesiges Kreuz um den Hals. Twylas Mutter hat eine enge grüne Hose an. Sie streckt die Hand aus, aber Robertas Mutter nimmt sie nicht, packt ihre Tochter und geht eilig fort. Hat die weiße Frau der schwarzen den Gruß verweigert? Oder hat die schwarze, bigotte Frau der weißen Frohnatur den Handschlag verwehrt?

Das Spiel mit Vorurteilen

Situationen wie diese gibt es immer wieder in "Rezitativ". Das, was zunächst plausibel wirkt, könnte auch ganz anders gewesen sein. Toni Morrison spielt gekonnt mit unseren unterschwellig rassistisch geprägten Vorurteilen, mit den Codes, die auf eine Rasse schließen lassen könnten. Wer arm und unterdrückt ist oder auch beautiful, muss nicht notwendigerweise schwarz sein.

Toni Morrison beobachtet eindringlich, völlig unsentimental. Ihre Sätze sind meist kurz und knapp, jedes Wort ist genau gesetzt. Und keines zuviel. Sie ist eine Meisterin der Auslassung, der Verknappung, der Eindringlichkeit.

Jahre später

Twyla darf das Waisenhaus bald verlassen, Roberta muss bleiben. Acht Jahre später begegnen sie sich wieder. Twyla arbeitet hinterm Tresen eines Diners an einer Schnellstraße. Roberta trägt Shorts, Twyla hat blickdichte Strümpfe an.

Zwölf Jahre später treffen sie sich in einer Shopping Mal. Inzwischen leben sie beide in Newburgh am Hudson. Roberta hat sehr reich geheiratet. Twyla ist mit einem Feuerwehrmann verheiratet und hat einen Sohn. Sie tauschen ihre Erinnerungen an das Waisenhaus aus.

"Zwei kleine Mädchen, die wussten, was auf der ganzen Welt sonst niemand wusste – wie man keine Fragen stellt. Wie man glaubt, was man glauben muss. In dieser Zurückhaltung lag eine Höflichkeit und auch etwas Großzügiges. Ist deine Mutter auch krank? Nein, sie tanzt nur die ganze Nacht. Ach so – und dazu ein verständnisvolles Nicken."

Unterschiedliche Erinnerungen

Roberta erzählt, dass sie mehrmals ausgerissen sei aus dem Waisenhaus. Sie streiten über eine Episode im Obstgarten. Haben sie die stumme Dienstmagd Maggie geschubst oder waren sie nur dabei, als die großen Mädchen dies taten?

Die beiden Frauen begegnen sich noch einmal, als Roberta gegen das 'Busing' protestiert,  Schüler werden mit Bussen in andere Schulen gebracht, damit schwarze und weiße Kinder gemeinsam lernen können. Twyla setzt sich fürs "Busing" ein. Und wieder geht es um Maggie. War sie schwarz? War sie weiß?

Zuletzt treffen sie am Heiligen Abend in einem Diner aufeinander. Twyla hat noch letzte Einkäufe gemacht und will sich kurz ausruhen. Da kommt Roberta herein, im Pelz mit silbernen Glitzerkleid.  

"'Habe ich dir erzählt, meine Mutter, die hat nie aufgehört zu tanzen?' 'Ja. Hast du mir erzählt. Und meine, die ist nie gesund geworden.“"'

Die Verunsicherung beim Lesen

Auf die nur gut vierzig Seiten lange Erzählung folgt ein ebenso langes Nachwort von Zadie Smith. Sie schreibt sehr persönlich über ihre Verunsicherung beim Lesen. Detektivisch hat sie versucht, herauszufinden, wer welche Hautfarbe hat. Sie gibt auf.  Und das ist genau das, was die große Toni Morrison gewollt hat.