Buchcover: "Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer

"Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer

Stand: 08.02.2023, 12:00 Uhr

Fesselnd wie ein seltsamer Traum – der neue Roman von Raphaela Edelbauer über den Vorabend des Ersten Weltkriegs ist verstörend gegenwärtig und äußerst amüsant zugleich. Eine Rezension von Andrea Gerk.

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen
Klett-Cotta, 2023.
352 Seiten, 25 Euro.

"Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer

Lesestoff – neue Bücher 08.02.2023 04:47 Min. Verfügbar bis 08.02.2024 WDR Online Von Andrea Gerk


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Am letzten Julitag des Jahres 1914 kommt der siebzehnjährige Pferdeknecht Hans Ranftler, der zum ersten Mal sein Tiroler Dorf verlassen hat, in Wien an. Die Stadt pulsiert, die Atmosphäre ist aufgeladen, denn alle warten das Verstreichen des deutschen Ultimatums ab:

"Als er zum ersten Mal auf den Wiener Boden stieg, in die Bahnhalle, die mächtig vom Doppeladler des Kaiserreichs überflaggt war, war es ihm, als wollten die Posaunen von Jericho ihm das Fleisch von den Knochen reißen. Rings um ihn schossen die Menschen wie Projektile; einander Zurufende, mit Hüten Winkende, Koffer Bugsierende, Dienende, Tragende, Fluchende. Aufgespannte Weite der Halle, die all diese gegeneinander taumelnden Menschen umfasste. Es pfiff und dampfte an der gläsernen Decke, dass Hans sich verschlungen wähnte."

Detailreich und ausgesprochen fesselnd schildert Raphaela Edelbauer das quirlige Vielvölkergemisch der habsburgischen Metropole, mit all ihren technischen Errungenschaften und all den künstlerischen Ideen, wissenschaftlichen Debatten und politischen Diskursen, die sich in jener Zeit schier zu überbieten schienen:

"Schwelende Ideen, die die Moderne, die Geschwindigkeit unserer Zeit hervorbringen. Neurosen. Chemie. Die Psyche und der Nationalstaat – Sexualität und das Volk. Und jetzt eben rezent der Krieg.
Der Krieg ist keine Idee, sondern politische Realität.
Die politische Realität ist selbst eine Idee."

Wie in einem Traum – dessen Logik dieser im besten Sinne eigenwillige Roman ohnehin folgt – begegnet Hans zwei jungen Menschen: Der Aristokratensohn Adam und die aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Mathematikerin Klara, die ausgerechnet bei der Psychoanalytikerin lebt, deren Adresse Hans in der ansonsten leeren Tasche hat.

Doch bevor es dazu kommen kann, dass Helene Cheresch Hans‘ irritierende, parapsychologische Wahrnehmungen analysiert, nehmen ihn seine neuen Freunde mit auf eine Tour de force – quasi einmal quer durch die materialisierte Ideengeschichte dieser Zeit: Mit Adam, der auch Bratschist ist, erlebt Hans eine Probe von Arnold Schönbergs skandalumwitterten Zweitem Streichquartett op. 10, danach wird beim Abendessen in Adams konservativem Elternhaus über den Krieg gestritten und schließlich folgt ein ekstatischer Zug durch die Wiener Unterwelt und das unterirdische Etablissement "Trabant":

"Hans hing den vergangenen Stunden nach. Was hatte er in dieser kurzen Zeit nur alles zu Gesicht bekomme? Er hatte mit den feinsten Menschen der Stadt gegessen und sich in einem marmornen Bad in einen mandelgrünen Anzug gekleidet, der jetzt – vom Abstieg in die Kanalisation – von den Beinen aufwärts besudelt war. Er hatte vorgestern noch den Stall des Viehs ausgemistet und würde in wenigen Stunden eine Analyse beginnen. Es schien alles gar nicht real."

Auch Raphaela Edelbauer geht es in ihrem famosen Roman – anders als dem Gros der Gegenwartsliteratur – nicht um Realismus. Vielmehr streift sie mit beeindruckender Klarheit durch schwindelerregende Gedankengebäude, wie sie auch jene Inkommensurablen aus der Mathematik bilden, die Klara erforscht und die dem Buch seinen Namen geben. Originell und lebendig entwirft sie dabei ein Gesellschaftsbild, in dem es um Fragen der Klassenzughörigkeit geht, um Diversität im Geschlechterverhältnis und natürlich um die Mobilisierung und Manipulation der Massen.

Mit großer erzählerischer Kraft vergegenwärtigt Raphaela Edelbauer einen jener historischen Momente, die immer erst im Nachhinein als Wendepunkt der Geschichte lesbar werden. Dass „Die Inkommensurablen“ trotzdem kein historischer Roman ist, sondern ganz nah an den Themen und Problemen unserer Zeit, liegt nicht zuletzt an der Sprache der Autorin, die erstaunlicherweise kunstvoll und natürlich zugleich wirkt. „Die Inkommensurablen“ ist so fesselnd wie ein seltsamer Traum und ebenso verstörend und dabei auch noch hochgradig amüsant.