Buchcover: "Lügen über meine Mutter" von Daniela Dröscher

"Lügen über meine Mutter" von Daniela Dröscher

Stand: 17.10.2022, 12:00 Uhr

Ein Dorf im Hunsrück in den 80ern. Elas Vater träumt von der großen Beförderung, doch die kommt einfach nicht. Ela erinnert sich an den Psychoterror, der ihre Familie zerbrechen ließ. Eine Rezension von Theresa Hübner.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter
Kiepenheuer & Witsch, 2022.
448 Seiten, 24 Euro.

"Lügen über meine Mutter" von Daniela Dröscher

Lesestoff – neue Bücher 17.10.2022 05:26 Min. Verfügbar bis 17.10.2023 WDR Online Von Theresa Hübner


Download

Man(n) kann Frauen auf die verschiedensten Arten unterdrücken und misshandeln. Fäuste sind dafür oft gar nicht nötig.

Niemand weiß das besser als Ela, die Ich-Erzählerin in Daniela Dröschers Roman "Lügen über meine Mutter". Es sind die 80er Jahre, Ela und ihre Eltern, später kommt noch eine kleine Schwester dazu, leben in einem winzigen Dorf im Hunsrück, in bescheidenen, aber soliden materiellen Verhältnissen. Doch der Vater ist zutiefst unzufrieden mit seinem Leben, träumt von der großen Beförderung und vom gesellschaftlichen Aufstieg. Warum der nicht klappt? Das weiß er ganz genau:

"Ich konnte jede noch so kleine Regung im Gesicht meines Vaters entziffern. Sein Gesicht war unser Wetter. Er ließ sich in einer Ecke des Tisches auf den Stuhl fallen und schaute meine Mutter düster an. Die Beförderung könne er sich abschminken, das sei ihm heute klar geworden. Ein Mann ohne eine vorzeigbare Frau würde eine solche gehobene Stellung niemals bekommen."

Und so hebt dieser Vater die Fäuste, verbal, doch durchaus brutal, prügelt er quasi mit Worten, mit abschätzigen Blicken, und Diätzwang- wie ein schlachtreifes Tier lässt er seine Frau antanzen zur wöchentlichen Gewichtskontrolle auf der Waage.

"Jeden Samstag musste meine Mutter pünktlich vor seinen Augen ihr Gewicht kon-trollieren. Anschließend trug mein Vater die Zahlen in ein dafür vorgesehenes Notizbuch ein."

Gleichzeitig lässt Elas Vater seine Frau schuften - Kinder, Haushalt, die Pflege der demenzkranken Mutter – all das, was man heute "Care-Arbeit" nennt, stemmt sie im Alleingang, während der Göttergatte sich in sinnlose Bauprojekte stürzt, sich teure, aber "repräsentative" Autos zulegt, fremdgeht und auf blöde Politiker und Wirtschaftsbosse schimpft.

Eigentlich ist dieser Mann ein armer Wicht, der seine eigenen Minderwertigkeitskomplexe kaschiert, in dem er seine Frau kleinhält. "Lügen über meine Mutter" ist daher zwar ein Roman über Unterdrückung und psychische Gewalt, aber auch über toxische Männlichkeit, die die Familie letztlich kaputt macht.

"Beim Mittagessen war die Stimmung bis zum Zerreißen gespannt. Passend zu seinem dunklen Blick hatte sich auch die Brille meines Vaters verdunkelt. Es war ein neues Modell, das Brille und Sonnenbrille in einem war.
'Wie lange willst du mich eigentlich noch anlügen?' Mein Vater legte ein zusammengeknüllten Zellophanpapier vor sie hin. Eine Verpackung von einem Marzipan-Riegel. Ich staunte."

Erzählerisch geht Daniela Dröscher in ihrem Buch äußerst klug vor. Es ist die zu Beginn erst 6 jährige Ela, die berichtet.  Vieles versteht sie nicht, ist verwirrt und spürt gleichzeitig mit ihren scharfen Kinderantennen, dass da was so gar nicht stimmt zwischen ihren Eltern.

Die zweite, wesentlich sparsamer eingesetzte, Erzählstimme gehört der erwachsenen Ela, die erst dann das ganze Ausmaß der Tyrannei, die in ihrer Kindheit herrschte, verstehen und sogar psychologisch einordnen kann.

"Seinem Selbstbild nach war die Familie für meinen Vater sein 'ein und alles'. In Wahrheit aber war mein Vater vor allem mit seinem Aufstieg beschäftigt. Und das hieß leider vor allem: mit den gläsernen Decken, an denen er immer wieder scheiterte. Und diese Mechanismen der Berufswelt trug er hinein in die Familie. Konkurrenz war ein wesentliches Moment in der Beziehung meiner Eltern."

In Interviews hat Daniela Dröscher die frisch-gekührte Nobelpreisträgerin Annie Ernaux als ihr Vorbild genannt und tatsächlich sind die Parallelen deutlich, denn „Lügen über meine Mutter“ geht weit über die familiäre Hölle hinaus. Der autofiktionale Roman entlarvt die emanzipatorischen Versprechen der 80er und 90er als Lüge, er thematisiert anhand des Mikrokosmos Familie die großen gesellschaftlichen Probleme – nutzt die Ich-Form, damit „wir“ die übergeordneten Zusammenhänge verstehen und hinterfragen.

Lügen über meine Mutter ist ein Buch, das alle lesen sollten, die Mütter, Töchter, Väter oder Söhne sind.