Buchcover: "Das Leben ist kein Abgrund" von Jean Stafford

"Das Leben ist kein Abgrund" von Jean Stafford

Stand: 18.08.2022, 19:14 Uhr

Viel genauer und schonungsloser, als es Jean Stafford in ihren Erzählungen "Das Leben ist kein Abgrund" getan hat, lassen sich Schmerz und Eifersucht, Gefangensein in Erinnerung und Einsamkeit kaum beschreiben. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer

Jean Stafford: Das Leben ist kein Abgrund. Stories
Aus dem Amerikanischen von Adelheid und Jürgen Dormagen
Mit einem Nachwort von Jürgen Dormagen
Dörlemann Verlag, 336 Seiten, 26 Euro

Jean Staffords eigene Form zu Schreiben

The Partisan Review oder der New Yorker – das waren in den 1940er und 50er Jahren stilprägende Zeitschriften. Viele Autorinnen und Autoren haben dort ihre ersten Schritte gemacht, bekamen Raum und Freiheit, sich auszuprobieren und Schreibweisen weiterzuentwickeln. Jean Stafford hatte 1947 mit 32 Jahren ihren zweiten Roman "Die Berglöwin" veröffentlicht und in den literarischen Zirkeln der Zeit Anerkennung gefunden. Während ihr das private Leben zunehmend entglitt – die erste Ehe mit dem Dichter Robert Lowell stand kurz vor dem Aus, ihr Alkoholkonsum nahm überhand, und die finanziellen Verhältnisse waren prekär –, öffneten sich ihr als Schriftstellerin Türen. Die Erzählung, in der sie sehr viel prägnanter und präziser immer wieder neue Situationen erkunden und psychologisch extreme Figuren auftreten lassen konnte, wurde zu der ihr eigenen Form. Vor allem im New Yorker erschienen ihre Texte, die später in Sammlungen eingingen und ihr unter anderem den Pulitzer Preis bescherten. Nun lassen sich elf ihrer Geschichten in der Übersetzung von Adelheid und Jürgen Dormagen entdecken.

Und sie sind wirklich eine Entdeckung: "Das Leben ist kein Abgrund" lautet der eher euphemistische Titel der Zusammenstellung, denn in Abgründe blicken ihre Figuren immer wieder."

"Ihre beharrliche Ruhe und ihre Abneigung zu sprechen, wobei eins vom anderen herzurühren schien, ähnelten, so die Meinung der Krankenschwestern, einem Koma im Endstadium. Und sie bemerkten mit mitleidiger Entrüstung, dass sie bei dem bisschen Interesse, das sie am Leben hatte, genauso gut tot sein könnte."

Ungeheure Beobachtungsgabe für innere Vorgänge

"Die innere Burg" erzählt von einer jungen Frau, die nach einem Autounfall, entstellt und seelisch ermüdet, Wochen im Krankenhaus zubringen muss. Pansy, so ihr Name, baut eine Mauer um sich herum; sie freut sich diebisch, dass sie das Personal in die Irre führt und sich einen Ort schafft, in den niemand vorzudringen vermag. Sie zieht sich in ihr Gehirn zurück, und doch nimmt sie mit äußerster Schärfe und kühler Genauigkeit die Außenwelt wahr, den Operationssaal, die Dinge, die mit ihr geschehen. Jean Stafford verfügt über eine ungeheure Beobachtungsgabe für innere Vorgänge, dazu mitunter über einen ironischen Ton, der die Lächerlichkeit mancher Situationen aufbricht.

"Das Leben ist kein Abgrund" von Jean Stafford

Lesestoff – neue Bücher 24.08.2022 05:50 Min. Verfügbar bis 24.08.2023 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer


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Viele der Geschichten der heute fast vergessenen Autorin sind seinerzeit bewundert und gefeiert worden, von Kollegen und Lesern. "Im Zoo" heißt eine davon. Zwei Schwestern werden beim Besuch eines Tierparks an ihre Kindheit erinnert. In der Rückschau auf die schauerliche Zeit bei einer Pflegemutter, wird auch die Gegenwart geradezu in ein Dunkel gehüllt. Am Ende weiß man nicht, ob die beiden in resignierter Verlorenheit oder mit sarkastischem Überlebenswillen auseinandergehen.

"Zwei Stunden später stehen wir neben meinem Zug und halten uns wie Ertrinkende fest umarmt. Wir sollten zum nächsten Polizisten gehen und sagen: 'Wir sind unzurechnungsfähige Frauen. Sie müssen sich um uns kümmern, weil wir uns nicht um uns selbst kümmern können.' Aber allmählich lässt der Sturm der Erregung nach."

Staffords Blick auf Themen ist ganz unkorrumpiert

Erinnerungen, die plötzlich auftauchen; der unmerkliche Übergang aus einem unschuldigen Bewusstseinszustand in die Unberechenbarkeit des Lebens; zögerliche Annäherungen von Liebesmüden; subtilen, hilflosen und mitunter gemeinen Spielen erwachsener Geistesmenschen: Das sind die Themen Jean Staffords, und ihr Blick darauf ist ganz unkorrumpiert. Sie lässt ihren Figuren keine einfachen Fluchtwege, aber wahrt doch deren Würde, weil sie das Treiben um sich herum durchschauen. Am deutlichsten wird das vielleicht in der letzten der elf Geschichten: "Ein Andrang von Dichtern", die von Verrat, Betrug, Scheitern und einer merkwürdigen Apathie handelt:

"Dieser schreckliche Sommer! Jeder Dichter in Amerika kam zu uns und blieb. Es war der erste Sommer nach dem Krieg, und die Menschen hatten wieder Benzin und konnten fahren, wohin sie wollten, und alle diese Dichter kamen in unser Haus in Maine und blieben wochenlang (…)."

Eine Geschichte der Desillusionierung

Im Nachwort weist Jürgen Dormagen zwar darauf hin, dass sich die Vorbilder der auftauchenden Protagonisten leicht ermitteln lassen – Stafford war Teil des damaligen Literaturbetriebs. Aber es ist keine Enthüllungsgeschichte, sondern die einer Desillusionierung. Wie Stafford diese schildert lässt an eine Selbstaussage der Autorin denken. Sie schreibe, sagte sie mal, mit der "Stimme eines Leichenbestatters" – unaufgeregt, leise, aber doch unbestechlich und rücksichtslos: Ein Bestatter kann beim besten Willen nicht beschönigen, womit er sich beschäftigt.