Hörbuchcover: "Lord Jim" von Joseph Conrad

"Lord Jim" von Joseph Conrad

Stand: 23.03.2023, 12:00 Uhr

Der Seemann Jim träumt davon, ein Held zu sein. An Bord des Seelenverkäufers Patna verwandelt sich diese romantische Allüre in einen Alptraum. Conrads doppelbödiger Klassiker bekommt als Hörspiel neuen Wind in die Segel. Eine Rezension von Oliver Cech.

Joseph Conrad: Lord Jim (Hörspiel)
Der Hörverlag, 2023.
4 CDs, 220 min Laufzeit, 24 Euro.

"Lord Jim" von Joseph Conrad

Lesestoff – neue Bücher 23.03.2023 05:30 Min. Verfügbar bis 22.03.2024 WDR Online Von Oliver Cech


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"Ich will nicht behaupten, dass ich Jim verstand. Im Ganzen wurde man aus ihm nicht klug."

Sagt einer, der es wissen muss: Jims einziger Freund, über lange Zeit auch der Erzähler seiner Geschichte – der Seemann Marlowe. Jim ist ihm ein Rätsel, und er wird es bleiben, bis zum Ende. Damit schafft der Autor Joseph Conrad in seiner Abenteuergeschichte eine unbehagliche Irritation. Denn an der Oberfläche ist Jim doch ein einfacher Jedermann – ein junger Engländer, der zur See geht, weil er davon träumt, ein Held zu sein.

"Er sah sich vom sinkenden Schiffen Menschen retten (Jim murmelt:) Von sinkenden Schiffen… Menschen retten… (Erzähler und Jim übereinander:) Im Orkan… Masten kappen… mit einer Leine… durch die Brandung schwimmen… oder als einsamer Schiffbrüchiger… barfuß… und halbnackt… über bloßgelegte Riffe wandern."

Woher hat Jim diese Träume? Aus Büchern! Er hat sie aus den klassischen Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts. Und das ist genau die Welt, in die das neue Hörspiel zunächst auch uns versetzt, klanglich – mit hochbrandender Meeresatmo und pathetischen Orchesterklängen. Diese Klangwelt ändert sich spürbar, im Lauf des Hörspiels. Denn dem romantischen Helden Jim geschieht etwas Unerhörtes: Seine Träume gehen in Erfüllung! Und er zerbricht an ihnen. Jims Schicksal wird die „Patna“, ein heruntergekommener Kahn, der 800 Pilger nach Mekka bringen soll. Die Patna wird von einem zwielichtigen Kapitän befehligt; und es ist den Seeleuten an Bord durchaus klar, dass sie auf einem Seelenverkäufer unterwegs sind. Jim schweigt dazu. Andere reden Klartext mit dem Kapitän.  

"Sie können verdammt froh sein, dass es Leute wie mich gibt, die nicht um ihr Leben bangen. Denn wo wären Sie sonst, Sie und dieser alte Kasten, mit Platten dünn wie Packpapier! Sehr schön für Sie: Sie schlagen immer noch Kapital daraus, so oder so. Aber ich, was bekomm ich?"

Völlig überlastete Schiffe, auf denen sich Menschen sammeln, die ihr letztes Geld geben für die Reise ins 'gelobte Land‘: Da sind wir bei den Flüchtlingsdramen des 21. Jahrhunderts. Auch auf der Patna geht es um nackten Profit, um nichts anderes. Jims erfährt am eigenen Leib: Die sogenannte "Christliche Seefahrt" ist nicht das, was in den Büchern steht. Jims moralischer Kosmos bekommt einen Riss. Und durch diesen Riss dringt die Katastrophe in sein Leben.

"Ein leises, fernes Donnern, kaum mehr als ein Zittern, glitt langsam vorüber. Das Schiff bebte. (Jim:) Was… was war das?"

Ungeheuer suggestiv, diese Szene einer sich anbahnenden Tragödie. Der morsche Kahn bekommt einen Schlag aus den Tiefen des Ozeans. Ob dieser Schlag natürlichen Ursprungs ist, ob eine übernatürliche Kraft dahinter steht? Der geniale Erzähler Joseph Conrad lässt uns, wie so oft in dieser Geschichte, im Ungewissen. Und er stellt Jim vor das moralische Dilemma seines Lebens: Soll er sein eigenes Leben retten – oder als romantischer Held untergehen?

"Glauben Sie denn, ich dachte an mich? Mit 160 Leuten hinter mir, alle in tiefem Schlaf, auf diesem vorderen Deck allein, 160! Und mehr noch achtern, mehr noch auf dem Deck. Diese Schlafenden, die von nichts wussten… Dreimal so viel, wie in die Rettungsbote gehen! Wenn überhaupt noch Zeit geblieben wäre. Was konnte ich tun? Was?!?"

Der Schauspieler Sebastian Urzendowsky spricht Jim, im neuen Hörspiel. Diese jungenhafte Stimme unterläuft das Klischee vom rauen Seemann; oft verhalten, fast ein wenig traumwandlerisch geht Jim durch sein Drama – um unter moralischer Spannung dann geradezu zu explodieren. Jim springt in ein freies Boot. Er rettet sich, wird ein Geächteter. Und flieht vor der Geschichte seines Versagens immer weiter nach Osten. Bis ihn diese Geschichte wieder einholt – in Gestalt eines Piraten, der alles über ihn zu wissen scheint.

"Ich will nicht fragen, was Sie in dieses Höllenloch getrieben hat, wo Sie anscheinend ganz nette Beute gemacht haben. (…) Können Sie denn nicht verstehen, dass man sich, wenn‘s darauf ankommt, im Finstern das eigene Leben zu retten, nicht darum kümmert, wer sonst noch draufgeht?"

Regisseur Martin Heindel hat Conrads Lord Jim sehr genau gelesen und mit leichter Hand adaptiert für das Medium Hörspiel. Sein Stimmenensemble ist klug geführt, die zum Finale immer eindringlichere Klanggestaltung unterstützt den dramatischen Aufbau. Wer dieses doppelbödige Seeabenteuer neu kennenlernen möchte, ist hier goldrichtig!