"Der Pole" von J. M. Coetzee

Stand: 24.05.2023, 12:00 Uhr

Der alte polnische Pianist spielt einen spröden Chopin, aber im eigenen Leben entpuppt er sich als romantisch Liebender. Der Bankiersgattin, die er mit seiner Verehrung überrascht, gefällt zumindest, dass sie ihm gefällt. Komik und Pathos, Kunst und Liebe gehen eine zündende Mischung ein in dem späten, kleinen Meisterwerk von J.M. Coetzee. Eine Rezension von Wolfgang Schneider.

J. M. Coetzee: Der Pole
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, 2023.
144 Seiten, 20 Euro.

"Der Pole" von J. M. Coetzee Lesestoff – neue Bücher 24.05.2023 05:21 Min. Verfügbar bis 23.05.2024 WDR Online Von Wolfgang Schneider

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Beatriz ist Ende vierzig, Ehefrau eines vielbeschäftigten spanischen Bankiers. In Barcelona verbringt sie ihre Tage mit "guten Taten" und Kultur. Sie gehört zur Leitung eines vornehmen Musikkreises und hat als Gastgeberin einen Abend lang den polnischen Pianistin Witold Walczykiewicz zu betreuen. Er ist robuste siebzig Jahre alt und verfügt über eine  prächtige weiße Künstler-Haarmähne. Für seine spröden Chopin-Interpretationen kann sich Beatriz allerdings wenig begeistern. Bald nach dem unspektakulären Konzertabend entpuppt sich der Pole indessen als Romantiker. Er schickt Beatriz ein kleines Geschenk und schreibt dazu: für den "Engel, der in Barcelona über mich wachte". Das klingt vielleicht ein bisschen übertrieben, aber welche Frau würde es nicht gern hören.

"Die Frau mit den tiefgründigen Fragen – es freut sie, dass er das anerkannt hat. Und sein Englisch amüsiert sie, mit der korrekten Grammatik und den falschen Redewendungen. Was missfällt ihr an ihm? So einiges. Vor allem seine Zahnprothese, zu blitzend, zu weiß, zu künstlich."

Dennoch, bei aller Spottlust: Beatriz lässt sich auf eine weitere Begegnung ein. Witold macht ihr eine Liebeserklärung, mit pathetischen, etwas altmodischen Worten und lässt sich nicht einschüchtern von ihrer Reserviertheit. Immerhin ist er schon weiter als Dante, der seine Beatrice sein Leben lang liebte, obwohl sie ihm nie ein Wort schenkte. Beatriz schenkt Witold Worte, wenn auch kühle. Chopins Musik sage uns etwas über unsere unbewussten Sehnsüchte, meint Witold einmal.

Das lässt sich als Motto des Romans verstehen. Beatriz führt eine Ehe, die der kultivierten Besitzstandswahrung dient und in der die sexuelle Leidenschaft zu beiderseitigem Einvernehmen erloschen ist. Nun wird ihre spöttische Lebensklugheit unterspült von einer sanften, aber unbeirrbaren Passion, die sie kaum erwidert, sich aber gefallen lässt. Weil etwas fehlt in ihrem Leben.

"Society Ladys – es ist nicht schwer, sich lustig über sie zu machen. Verspottet für ihre guten Werke. Was für ein lächerliches Schicksal! Hätte sie jemals vermutet, dass sie das erwartet?"

Ihr gefällt, dass sie ihm gefällt. Und mehr als Witolds Verhalten interessiert Beatriz ihr eigenes. Wie weit ist sie bereit zu gehen? Ziemlich weit. Aber Sex – niemals.

"Sie denkt daran, wie es wäre, das Bett mit diesem riesigen Knochengerüst zu teilen, und schaudert vor Abscheu. Diese kalten Hände auf ihrem Körper."

Bald darauf gibt sich Beatriz aber doch dem Verlangen des alten Musikers hin, zumindest halbherzig. Verhalten und Gedanken passen bei dieser intelligenten Frau nicht so richtig zusammen. Aber damit ist sie gewiss kein Einzelfall, und Coetzee gewinnt diesem Spannungsverhältnis eine sehr reizvolle Erzählperspektive ab. Nach einigen Liebesnächten kehrt Beatriz zurück in ihr bürgerliches Leben, verabschiedet den Polen schroff, was er devot akzeptiert. Jahre später erfährt sie von seinem Tod – und dass er ihr etwas hinterlassen hat.

Sie fährt nach Warschau und nimmt ein Konvolut mit Gedichten in Empfang, ihr gewidmet. Der einsame alte Mann hat sich in den letzten Jahren ganz dem lyrischen Minnedienst an seiner Beatriz verschrieben. Sie könnte die Gedichte wegwerfen, zumal sie kein Polnisch versteht und es wohl keine Meisterwerke sind. Aber sie lässt sie übersetzen. Und so setzt sich das merkwürdige Liebesgespräch der beiden über den Tod hinaus fort.

Coetzees Werke spielen mit großen Kontexten, in diesem Fall Dante. Oft ergibt sich durch den Bezug zu den erhabenen Vorlagen eine feine Komik, weil das heutige Leben nun mal so erhaben nicht ist. Faszinierend ist Coetzees schlackenlose Prosa. Schärfe der Wahrnehmung verbindet sich mit lakonischen Reflexionen. Meisterhaft versteht sich dieser Autor darauf, Lücken zu lassen und mit Andeutungen viel zu sagen. "Der Pole" ist ein kleines, feines, skurriles Meisterwerk.