Thomas Clerc: Interieur
Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz, 2022.
344 Seiten, 26 Euro.
Wer eine fremde Wohnung betritt, der überschreitet gleich an der Eingangstür eine Schwelle: von draußen nach drinnen natürlich, vor allem aber vom Öffentlichen ins Private. Das eigene Zuhause ist ein geschützter Raum, eine intime Höhle, vielleicht auch ein Bollwerk gegen die Welt da draußen. Wir allein entscheiden, wen wir hereinlassen, und wenn in die eigene Wohnung eingebrochen wird, geht neben dem, was geklaut wird, vor allem eines verloren: ein fundamentales Gefühl der Sicherheit. Auch Thomas Clerc ist vor Jahren Opfer eines Einbruchs geworden, aber der Grund, warum er die Wohnungstür reflexartig zweimal abschließt, ist ein anderer:
"Es ist der Wunsch, hermetisch von draußen abgeriegelt zu sein, der mich zu dieser Drehung des Handgelenks veranlasst, mit der ich mich einschließe. 1 Refugium mitten in der Stadt, 1 laue oder kühle Ruhe als Bollwerk gegen die Straße. Mit dieser Gründungsgeste unterbreche ich den Fluss, betrete heimatlichen Boden. Das metallische Geräusch des Schlüssels, der sich 2mal im Schloss dreht, signalisiert den Übergang in die andere Welt. Genauso verfahre ich, wenn 1 Besucher mich verlässt: Kaum draußen, hört er, wie ich den Schlüssel hinter ihm umdrehe, was beiderseits der Tür für Gelächter sorgt. Der Verrückte schließt sich selbst ein."
Für uns Leser macht der Autor eine Ausnahme und nimmt uns mit in seine Wohnung. Mehr noch: Auf fast 350 Seiten schildert er detailliert so ziemlich alles, was sich auf den insgesamt rund 50 Quadratmetern so findet: Möbel, Küchenutensilien, natürlich jede Menge Bücher, Schallplatten, technische Gerätschaften, exakt 24 Hemden und 6 Anzüge, dazu jede Menge andere Kleidungsstücke und Schuhe. Wenn wir am Ende wieder gehen, wissen wir, was Thomas Clerc auf der Toilette liest, wo er sein rosafarbenes, extraweiches Klopapier stapelt, warum er nicht so arg gerne kocht, was am Schlafzimmer das Wichtigste ist und was sich in seinen Schreibtischschubladen so alles versteckt. Er selbst nennt das Autobiographie einer Wohnung: Es ist eine Vermessung der eigenen Wohnwelt und zugleich der Versuch, zumindest sprachlich eine Ordnung der eigenen Dinge herzustellen.
"1 Wohnung ist 1 Abfolge aus Wänden mit Türen und 1 Fußboden, die in Räume mit Fenstern führen, in denen sich Möbel spiegeln, die Dinge enthalten."
Dank der schwedischen Möbelhauskette wissen wir, dass aus dem Wohnen möglichst ein Leben werden sollte und dass die Art und Weise, wie jemand wohnt, auch etwas darüber aussagt, wie er lebt. Und ja, wir erfahren durchaus einiges über das Leben des Thomas Clerc, doch obwohl wir mit ihm die Kleiderschränke inspizieren und in die Badewanne eintauchen, bekommen wir keinen so richtigen Einblick in sein Seelen- und Gedankeninterieur. Dieses Buch, das keine Gattungsbezeichnung trägt, ist eher eine Philosophie der Einrichtung als die gläserne Autobiographie, die der Autor an einer Stelle verspricht.
Vor allem aber ist „Interieur“ ein skurriles Werk: Es erinnert in seiner detailverliebten Beschreibungswut an den nouveau roman, lässt aber auch an die surreal-verspielten Romane eines Georges Perec oder Raymond Queneau denken und verweist natürlich auf einen der wirkmächtigsten Texte der französischen Literatur, nämlich die „Reise um mein Zimmer“ von Xavier de Maistre, die 1795 erschien.
Die Lektüre zeitigt jedenfalls erstaunliche Ergebnisse. Ob Unterhosen, Staubsaugen oder das Ordnungsprinzip im Bücherregal – dieses Buch verändert auf wundersame Weise die Wahrnehmung der eigenen Wohnwelt und ihres Interieurs. Und bislang eher unbeachtete Dinge gewinnen plötzlich eine tiefere Bedeutung:
"Die Klobürste ist der am geringschätzigsten behandelte Gegenstand im ganzen Haus. Transportunfähig, lässt er sich trotz allem etwas aufwerten, entweder durch Verfremdung oder durch Verschönerung. Ich besitze 1 niedrigpreisiges Modell, mit dem ich mich zufriedengebe, und weigere mich, in 1 Luxusvariante zu investieren: Sie erinnert mich daran, dass Leute, die beim Fluchen »Mist!« statt »Scheiße!« sagen, ihre Vulgarität nur umso nachdrücklicher zur Schau stellen. Ich stehe bewusst zu der geballten Pracht dieses erbärmlichen Objekts."
Ja, mag sein, dass dieser Beschreibungsmarathon etwas zu lang, ein bisschen zu selbstverliebt und in seinem Anspielungsreichtum vielleicht ein wenig zu französisch geraten ist. Das ändert nichts daran, dass es ziemlichen Spaß macht, diesen originellen Autor endlich auch auf Deutsch kennen zu lernen.