Jan Peter Bremer: Nachhausekommen
Berlin Verlag, 2023.
208 Seiten, 22 Euro.
Misstrauische Blicke
Es ist für ein Kind schlimm, aus seinen gewohnten Zusammenhängen gerissen zu werden. Im Falle des Ich-Erzählers in Jan Peter Bremers neuem Roman "Nachhausekommen" ist es gar ein drastischer Ortswechsel, der ihm da Anfang der 1970er-Jahre zugemutet wird: von Berlin ins Wendland, von der Großstadt in ein Dorf, in dem ganz andere Gesetze gelten.
Hier stehen die Söhne der Großbauern ganz oben, und die Familie des Erzählers wird mit misstrauischen Blicken gemustert: Der Vater des Grundschülers ist ein erfolgreicher Maler, der sich mit Frau und Sohn in einem kleinen Schloss einquartiert hat. Die Freunde, die häufig zu Besuch kommen, sind Künstlerinnen und Schriftsteller, eine für die Einheimischen äußerst dubiose Mischpoke. Man vermutet, dass die Zugezogenen mit ihren exzentrischen Gästen mindestens Drogen-, womöglich aber auch noch ganz andere Orgien feiern. Ganz sicher sein kann man sich bei ihnen nicht,…
"…ob wir nicht doch Terroristen waren, denn genau wie die Terroristen waren wir gegen Deutschland, und wie die Terroristen waren wir gegen das Atomkraftwerk, das hier im Landkreis geplant wurde."
Eine Kindheit im Zwiespalt
Kinder könnten absolut keine Unterschiede ertragen, schrieb der Kinderarzt und Psychiater Aldo Naouri einmal. Sie leiden darunter. Für Jan Peter Bremers Erzähler bedeutet das einen Spagat: Einerseits will er zu den Mitschülern gehören, die ihn vehement schneiden – er sehnt sich nach Freunden, versucht, ihnen zu gefallen und bleibt doch ein Außenseiter; andererseits himmelt er seine Eltern und insbesondere seinen Vater an; er ist zugleich stolz auf das Anderssein.
Ein die frühe Kindheit bestimmender Zwiespalt. Die Aufgabe, die ihm von den Eltern gestellt wird, nämlich glücklich zu sein, fällt ihm nicht leicht. Er ist ungeschickt und fügt sich irgendwann in die Rolle des Ungeschickten; er hat Schwierigkeiten in der Schule und entwickelt quälende Ängste. Er fühlt sich als ein…
"…Junge, der wie ein Mädchen aussah, der schwach war und sich nicht wehrte und dabei nichts begriff und rein gar nichts konnte."
Die Vergangenheit einfangen
Der 1965 geborene Jan Peter Bremer ist als Sohn des Malers Uwe Bremer in Gümse im Landkreis Lüchow-Dannenberg aufgewachsen. In diese Region im Zonenrandgebiet hatte sich in den 70er-Jahren eine ganze Kolonne vor allem Berliner Künstler aufgemacht; sie hatten sich dort niedergelassen oder zumindest ein Ferienhäuschen gekauft.
Nicolas Born, Hans-Christoph Buch und Marie-Louise Scherer, Albert Schindehütte, Johannes Vennekamp und Arno Waldschmid gehörten zu diesem Zirkel, und Jan Peter Bremer erzählt aus der Perspektive des sechs- bis 13-Jährigen von dieser Zeit des Heranwachsens und des langsamen Nachhausekommens: Er wirft lange parataktische Sätze aus, um die Vergangenheit einzufangen, versucht die Verwirrungen und Enttäuschungen, das Glück und die Euphorie, den Schrecken und die Angst der Kindheit ohne abgeklärte Wertungen des erwachsenen Ich wiederzufinden.
Zwischen Erlösung und Verzweiflung
Bremer ist auf der Suche nach der verlorenen Zeit; und es ist wie bei Prousts Marcel die Mutter, die ihm abends vor dem Einschlafen einen Kuss gibt und damit erlösende Momente verschafft. Da ist ein zärtlicher, naiv-hellsichtiger Ton in diesem Buch, hinter dem sich aber immer etwas Verzweifeltes auftun kann. Je stärker dieses Kind die Potenz des Vaters wahrnimmt, sein Können und seine Überlegenheit bewundert, desto deutlicher zeigen sich auch die Risse in diesem Verhältnis.
"Dieser Blick, der plötzlich so abwertend war, dieser Mund, der sich plötzlich so hart in meine Richtung geöffnet hatte, und obwohl ich doch wusste, dass irgendwann wieder alles gut sein, dass irgendwann auch über diese Sache Gras gewachsen sein würde, war es mir weder möglich, daran zu glauben, noch, darauf zu hoffen."
Brilliante Beobachtungen und eine besondere Stimmung
Mit den Büchern, in die sich der Junge flüchtet, tun sich neue Horizonte auf: Er fängt an, eigene Geschichten zu schreiben, und er genießt die Aufmerksamkeit, die sie bei den Erwachsenen erregen. Seine Noten werden besser, und er wechselt doch noch von der Realschule aufs Gymnasium. Und auch wenn man glaubt, Coming-of-Age-Romane wie diesen bereits zu kennen – gelesen hat man einen solchen noch nie.
Denn Bremer umspielt dieses Leben mit großer Sensibilität; er sucht nach den Brüchen und Bruchstücken, mit denen er sich eine eigene Welt aufbauen konnte. Es sind einzelne Sätze, die eine wunderschöne Genauigkeit haben; einmal etwa heißt es über die Omi, die aus Leipzig anreist und klein auf dem großen Sofa sitzt, sie wirke "wie jemand, der ausgeschnitten und falsch wieder eingeklebt worden war". Aber mehr noch als solche brillanten Beobachtungen, Beschreibungen, ist es die Stimmung, die Bremer erzeugt: nicht nostalgisch, nicht wehmütig, nicht traurig, sondern voller Anteilnahme und Komik, Schmerz und Erfahrungshunger.