Buchcover: "Blutbuch" von Kim de l´Horizon

"Blutbuch" von Kim de l’Horizon

Stand: 09.09.2022, 12:40 Uhr

Vom Blut zur Buche zum Buchstaben: Kim de l’Horizon folgt der mütterlichen Blutlinie auf der Suche nach innerer Heilung. Ein Debüt so experimentell wie existenziell, über fluide Identitäten, Lust und Scham. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Kim de l’Horizon: Blutbuch
Dumont Verlag, 2022
336 Seiten, 24 Euro

Ein Baum wie eine Kathedrale

Im Garten der Großmutter steht eine Blutbuche. Ein Baum, groß und stark, wie eine Kathedrale. Um zu werden wie sie, soll die Erzählfigur ihre Geschichte erzählen. Aber wo anfangen, wenn man sich nicht erinnern kann? Bei der Großmutter, im Schweizerdeutschen die Großmeer, die an Demenz erkrankt ist.

"Ich möchte verstehen, wieso ich kaum Erinnerungen an meine Kindheit habe, und wenn, dann nur an dich. Ich möchte eine Sprache finden, in der ich dich fragen kann: ‚Wo sind die Meinigen?‘ Wenn ich an dich denke, denke ich an all die Dinge, die wir uns nie sagen konnten und nie sagen können."

Das Fremde in sich

Über die Großmutter versucht die Erzählfigur zu sich selbst zu finden. Eine queere Persönlichkeit, die sich von der Gesellschaft abgewertet fühlt, die Traumata in sich trägt. So non-binär sich die Figur versteht, also keinem Geschlecht zugehörig, so nonlinear ist die Erzählung aufgebaut. Wenn man hier überhaupt von einer Erzählung sprechen kann, denn sie folgt keinem Plot. Der Text ist eher ein Mäandern durch die Zeiten und Gedanken – eine Suche nach dem Ausdruck für das Fremde in sich.

"Großmeers Füße waren riesig, der große Zeh war eine kleine Faust, und sie hatten diese seitlichen Schwellungen, die sie seufzend Hallux nannte. Ich hatte immer Angst, dass dort ein weiterer Zeh aus der Haut schlüpfen will. Ich lernte an Großmeers Füßen, dass Körperteile Wesen sind, die gegen einen arbeiten, die nicht dasselbe sind wie mensch selbst, die ein anderes Geschlecht haben, eine andere Spezies sein können."

"Blutbuch" von Kim de l’Horizon

Lesestoff – neue Bücher 13.09.2022 05:29 Min. Verfügbar bis 13.09.2023 WDR Online Von Corinne Orlowski


Download

In einer anderen Zeitlichkeit

Im "Blutbuch" von Kim de l’Horizon erfährt man von einem besonderen Körpergefühl und davon, dass bei queeren Menschen die von der Gesellschaft stark geprägten Begriffe wie Kindheit, Jugend, Erwachsensein nicht greifen, sie sich in einer anderen Zeitlichkeit verorten. Darauf weißt auch die Biografie im Klappentext hin: l’Horizon sei 2666 geboren, heißt es dort, habe Germanistik im Elfenbeinturm und Literarisches Weinen in Biel studiert.

"Ich schreibe dir, weil es mich nur durch meinen Körper gibt, weil ich deine Fortsetzung bin und weil ich gewisse Dinge nicht mehr fortsetzen will. Ich schreibe dir, weil ich – wie Meer und du – nicht über Dinge sprechen kann, die mich wirklich beschäftigen, ich schreibe dir, weil: Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht."

Sprachverspielt und lustvoll

L’Horizon zeigt sich sprachverspielt, poetisch und lustvoll. Dafür hat they, um das Pronomen zu verwenden, mit dem viele nicht-binäre Menschen angesprochen werden wollen, dafür hat they eine "écriture fluide" entwickelt, angelehnt an "écriture feminine", eine Sprache, die durch Formen fließt. Und so ist der Text tatsächlich wie ein Fluss: mal wild, mal sanft, mal reißend, mal sprudelt, dann spritzt es.

In Fragmenten wird die Großmeer direkt angesprochen, einige Passagen sind in Listen gehalten, andere märchenhaft, manche bestehen aus Sätzen mit nur sieben Wörtern oder aus schreibmaschinengetippten Lebensläufen oder sind in Gänze auf Englisch verfasst. Es gebe einfach Dinge, so die Erzählfigur, die könne sie auf Deutsch nicht sagen.

"Deshalb schreibe ich diese Briefe auf Englisch, die Sprache, die ich mir selbst beigebracht habe, als ich als Teenager Harry Potter gelesen und Herr der Ringe gesehen habe; die Sprache meiner Sexdates; die Sprache, die andere Augen hat als meine Muttersprache; die Sprache, in der ich mich nicht beobachtet fühle; die Sprache, die du nicht wirklich verstehst."

Scham als Kraft der Erinnerung

Es hat etwas Heilsames, das "Blutbuch" zu lesen, denn es erinnert daran, dass Scham die genaueste Kraft der Erinnerung ist. Kim de l’Horizon folgt daher der mütterlichen Blutlinie bis ins 14. Jahrhundert, um sich und die Angst vor dem eigenen Körper zu verstehen.

Es hat aber auch etwas Aufwühlendes, ja Abstoßendes, wenn im mittleren Teil des Buches auf einmal die Erzählfigur ganz aufgekratzt ihren harten Sex bis in die Tiefen des Darmes beschreibt.

"Und dafür entschuldige ich mich auch, echt, entsorrygung, aber diese Zeit, die ich da erscheinen will, die ist mir zu nah, zu mäh & wäh, als dass ich aus dem Arsenal der Stimmen eine zulassen könnte, die sich nicht darüber lustig macht. Pardon, es ist einfach, ich schäme mich. Ich schäme mich für all das."

Ein kunstvoller Fragmentroman

Doch die meiste Zeit berührt dieser kunstvolle Fragmentroman. Er ist ein Schrei nach Liebe und spricht sicher nicht nur Leserinnen und Leser aus der queeren Szene aus der Seele. Und wie ein Fluss, endet das "Blutbuch" im Meer, im Meer der Sprache und bei den Meeren, den Müttern. Denn wie sagt l’Horizon über sich: "Ich komme nicht von hier, ich komme vom Horizont."