Buchcover: "Wovon wir leben" von Birgit Birnbacher

"Wovon wir leben" von Birgit Birnbacher

Stand: 06.03.2023, 12:00 Uhr

Wie sieht eine lebenswerte Arbeit aus? Und wie eine gute Liebesbeziehung? In Birgit Birnbachers neuem Roman sucht eine arbeitslose Krankenschwester in ihrem Heimatdorf die Kraft für einen Neuanfang – und verstrickt sich in einem Netz aus Erwartungen und familiären Verpflichtungen. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben
Zsolnay Verlag, 2023.
192 Seiten, 24 Euro.

"Wovon wir leben" von Birgit Birnbacher

Lesestoff – neue Bücher 06.03.2023 05:28 Min. Verfügbar bis 05.03.2024 WDR Online Von Oliver Pfohlmann


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Wo die Zitronen blühen

Das nennt man Ironie. Da möchte man als erwachsene Tochter nach diversen Schicksalsschlägen nur noch zurück ins Elternhaus, um sich von Mama wieder aufpäppeln zu lassen.

Stattdessen muss Frau zuhause feststellen, dass sich die Mutter mit Anfang sechzig auf- und davongemacht hat, um endlich ihr eigenes Leben zu leben. Sie ist jetzt, wie der verbitterte Vater lamentiert, dort, wo die Zitronen blühen, auf Sizilien.

Die Luft zum Atmen fehlt

So ergeht es Julia, der Ich-Erzählerin im neuen Roman der Österreicherin Birgit Birnbacher. Die Enddreißigerin hat gerade ihren Job im Salzburger Krankenhaus verloren, weil sie als Krankenschwester im Dauerstress einer Patientin das falsche Mittel verabreicht hat. Hinzu kommen eine aussichtslose Affäre mit einem verheirateten Arzt und eine asthmatische Erkrankung, die einfach nicht besser werden will.

'Einatmen, Ausatmen' – so lautet das wiederkehrende Mantra der erschöpften Ich-Erzählerin, wann immer ihr die Kontrolle zu entgleiten droht. Nur dass Julia in ihrem Heimatdorf in den Bergen erst recht die Luft zum Atmen fehlt – so bedrückend findet sie die hiesigen Lebensumstände, wie Julia einem ungläubigen Kurgast erklärt.

"'Überall ist es anders als hier', sage ich, und er will noch einmal hören, wie der Berg heißt, und ich sage: 'Heu-kar-eck.' Er lacht über mein Gesicht, und ich überlege kurz, ob ich erzählen soll, wie es ist, hier im Schatten dieses Berges aufzuwachsen und keine Luft zu kriegen, einfach nie Luft zu kriegen, und ob ich sagen soll, dass ich diesen Berg immer noch verantwortlich dafür mache, diese Masse feuchten Steins immer noch dafür hasse, wie sie mir, dem Kind, tagein, tagaus in der Sonne stand."

Paradebeispiel eines hilflosen Patriarchen

Seit die letzte Fabrik geschlossen hat, geht es dem Dorf, dem Julia eigentlich längst entronnen ist, nur noch schlechter. Die Männer sind arbeitslos, trinken und verspielen ihr letztes Geld im Wirtshaus. Dort ergehen sie sich in dumpfen Ressentiments, gegen Frauen, Fremde und jene, die es von hier fortgeschafft haben.

Birgit Birnbacher, Jahrgang 1985 und selbst aus solch einem Ort im Bundesland Salzburg stammend, lässt auf den ersten Blick in ihrem neuen Roman kein Klischee aus. Gerade der alternde, kränkliche Vater der Protagonistin ist das Paradebeispiel eines hilflosen Patriarchen, der im Haushalt nie einen Handgriff getan hat und nun mit dem Mittel der emotionalen Erpressung die Tochter wieder an sich und damit an den Ort zu binden sucht.

"So ein Jahr steht mir also bevor, ein Wettlauf, der gleichzeitig ein Zeitstillstand ist, ein Jahr mit zu wenig Geld, ein Jahr, in dem ich Suppe koche für den Vater, ein Jahr, in dem ich mich um ihn kümmere anstatt er sich um mich. Wenn eine Frau ausfällt, muss die andere herhalten. So geht das Rezept zur alten und ewigen Suppe."

Ein fragiles Glück

Dass man diesen Ort auch ganz anders sehen kann, erlebt die irritierte Julia am Beispiel besagten Kurgastes. Der "Städter", wie sie ihn für sich nennt, heißt eigentlich Oskar und hat gerade einen Herzinfarkt hinter sich. Nun will der geläuterte Angestellte sein Leben ändern und ist auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit und einem Ort, wo er sich "einbringen" kann, wie er sagt.

An der Seite dieses Schwärmers findet die skeptische Julia einen Sommer lang ein überraschendes, fragiles Glück. Dem sie aber schon deshalb misstraut, weil der Städter in Salzburg schließlich einen Job und auch eine Freundin hat. Dennoch wird der umtriebige Oskar im Ort für einige Veränderungen sorgen.

"Und dann doch wieder die Möglichkeit des Bleibens. Immer wieder, bei jedem dritten Atemzug, zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen: den Vater zu ertragen, die Pflicht zu erfüllen oder die Frage, ob es sie gibt, als müßig beiseitestellen."

Die Frage nach einem gelungenen Leben

Birgit Birnbachers "Wovon wir leben" ist ein Dorfroman und gehört damit zu einem Genre, das in den letzten Jahren regelrecht boomt. Im Unterschied aber etwa zu Juli Zehs Bestseller "Unterleuten" geht es der Bachmannpreisträgerin weniger um das soziale Gefüge auf dem Land als vielmehr um die Frage nach einem gelungenen Leben.

Und zwar auch und gerade vor dem Hintergrund heutiger Arbeitswelten, wie sie ihre Ich-Erzählerin im Krankenhaus kennenlernt: mit all der Digitalisierung und Durchtaktung, die für freundliche Worte mit den Patientinnen und Patienten keine Zeit mehr übriglässt.

Sorgfältig und mit großer Präzision – aber auch einer wohltuenden Portion Realismus – erzählt Birnbachers sympathischer Roman von Menschen, die sich selbst im Weg stehen und die trotzdem versuchen, aus den sprichwörtlichen Zitronen des Lebens Limonade zu machen.